4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 08.04.2024, Seite 12 / Thema
Der Imperialismus der BRD

Großer Sprung

Die eigene Konkurrenzfähigkeit verbessern. Der aktuelle Imperialismus deutscher Nation als Haushaltsfrage
Von Theo Wentzke
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Standortaufrüstung, um die Beherrschung der Weltmärkte nicht den anderen zu überlassen. Dafür schafft sich der deutsche Staat mit seiner Kredit­fähigkeit auf den Finanzmärkten ein »Sondervermögen« (Der Kanzler und sein Kriegsminister besuchen eine Panzerfabrik von Rheinmetall, Februar 2024)

Wenn ein bürgerlicher Staat seinen Haushalt macht, dann geht es immer um alles. In ihm kommt nämlich alles vor: Auf der einen Seite steht das Geld, mit dem im Kapitalismus auch die Herrschaft wirtschaftet. Auf der anderen Seite steht alles, was sie mit ihrem steuerlich abgeknöpften und geliehenen Geld anfangen will: alle Vorhaben der Staatsgewalt, auf die das Geld gemäß den von der Regierung gesetzten Prioritäten verteilt wird. So bekommen die Untertanen eines bürgerlichen Rechtsstaats umfassend – von den Straßenlaternen bis zu den Panzern – vorgerechnet, womit und wozu genau ihre Herrschaft ihnen verhilft und worauf sie sie verpflichtet.

Schon das macht die Erstellung eines Staatshaushalts zu einer unerfreulichen Veranstaltung. Insbesondere dann, wenn das Bundesverfassungsgericht der Regierung in letzter Minute einen Strich durch die Rechnung macht; das hat ihr nämlich die Übernahme von 60 Milliarden an ungenutzten Kreditermächtigungen für die Bewältigung der Coronapandemie in ihren Klima- und Transformationsfonds nicht durchgehen lassen, weil die Schuldenbremse mit einem solchen Umbuchungsmanöver jedenfalls nicht zu umgehen ist.

Um so beeindruckender ist es aus Sicht der Regierung, mit welcher Effizienz und Geschlossenheit sie zwar verspätet, aber pflichtschuldig ihren Job erledigt hat: Sie verabschiedet einen Haushalt, der all ihre großen Prioritäten beibehält und zugleich die Schuldenbremse für das kommende Jahr – mit einer Öffnungsklausel für unvorhergesehene Mehrkosten durch den Ukraine-Krieg – einhält.

Projekt »Zeitenwende«

Die erste und letzte Auskunft der Regierung zu ihrem diesjährigen Haushalt lautet: Deutschland muss größer werden – als militärische Gewalt und als ökonomische Macht. An dem russischen »Eroberungskrieg auf europäischem Boden« ist deswegen exakt eine Auskunft relevant, nämlich dass er »auf Jahre hinaus eine vollkommen veränderte sicherheitspolitische Lage für Deutschland und für ganz Europa schafft«. Der dortige Angriff bedeutet, dass alles, was Deutschland daraus folgen lässt, eine Verteidigung der nationalen Sicherheit, also unwidersprechlich ist: sei es die finanzielle und waffenmäßige Kriegsbeteiligung in der Ukraine, seien es die Renovierungsarbeiten, die die deutsche Regierung an den eigenen Geschäftsbedingungen und Gewaltpotenzen für nötig hält – die beschleunigte Umstellung der Energieversorgung auf Quellen, von denen garantiert keine russische Erpressungsgefahr mehr ausgeht, die vielmehr umgekehrt Deutschland zu eigenen Erpressungsmanövern befreien, sowie der epochemachende Um- und Aufbau einer Bundeswehr, die einer gegen die russische Militärmacht »kriegstüchtig« zu machenden Nation würdig ist.

Was daraus für den Haushalt folgt? Sehr viele Milliarden für den Krieg in der Ukraine und ein großer Sprung in der militärischen Schlagkraft der Nation – und laut Kanzler Scholz überhaupt kein Anlass zur Sparsamkeit an anderer Stelle: »Es wäre ein schwerer, ein unverzeihlicher Fehler, angesichts der akuten Herausforderungen die Modernisierung unseres Landes zu vernachlässigen« (Regierungserklärung, 28.11.2023). Denn die große Defensive, die Deutschland zu seinem militärischen Aufbruch treibt, darf bloß nicht die andere epochemachende Offensive ausbremsen, die Deutschland schon vorantreibt, nämlich die »Modernisierung« der nationalen Infrastruktur und vor allem die klimaneutrale »Transformation« des deutschen Wirtschaftsstandorts. Der unwidersprechlich gute Sinn dieser Offensive wird im ersten Fall gerne in der kleinen Münze von maroden Schulen, Straßen, Schienen, Brücken etc. vorstellig gemacht, deren Reparatur sich nicht weiter aufschieben lässt, im zweiten Fall eher als Sachzwang eines sich wandelnden Klimas, den kein vernünftiger Mensch ignorieren kann. Es macht dabei offenbar nichts, dass die Regierung in beiden Fällen keinen Zweifel daran lässt, wodurch die infrastrukturelle und technologische Runderneuerung des deutschen Wirtschaftsstandorts ihre alternativlose Dringlichkeit wirklich erhält, woran die Regierung dabei also Maß zu nehmen hat: »Egal wo man hinschaut, ob in die USA oder nach Frankreich, nach China oder Japan, überall sind Regierungen dabei, massiv in die Zukunft zu investieren. Weltweit investieren Länder in moderne und digitale Infrastruktur, in saubere Energieversorgung und in klimafreundliche Technologien. Wir sind mitten im Aufbruch in eine neue Ära, vergleichbar in seiner Dimension nur mit dem Aufbruch in das Industriezeitalter. Jetzt, schon in den allernächsten Jahren, entscheidet sich, wo künftig Wertschöpfung stattfindet, wo Innovation und Wohlstand zu Hause sind in einer klimaneutralen Welt« (ebd.).

Mehr Konkurrenzfähigkeit

Was nun daraus, d. h. aus dem großen militärischen und ökonomischen Doppelbedarf des Staates, für den Haushalt folgt? Schon wieder sehr viel Geld über einen sehr langen Zeitraum. Gerade deswegen ergibt sich daraus laut Vizekanzler Robert Habeck ein Reformbedarf an sehr entscheidender Stelle: Der Bewältigung dieser doppelten Herausforderung steht eine Verfassungsrechtslage im Weg, die von den großen Aufgaben und ihrer außerordentlichen Dringlichkeit nichts weiß. Das bewegt Habeck – sowie einige seiner »grünen« und sozialdemokratischen Kollegen – zur Feststellung, dass Deutschland sich angesichts dessen, was es sich ab sofort leisten muss, seine Schuldenbremse so jedenfalls nicht länger leisten kann: »Ich persönlich mache keinen Hehl daraus, dass ich die Art, wie die deutsche Schuldenbremse konstruiert ist, für zuwenig intelligent halte. Sie ist sehr statisch, und sie unterscheidet nicht zwischen Geldern, die wir so ausgeben im Laufe des Jahres, und Investitionen in die Zukunft, die sich erst nach zehn, 20, vielleicht 50 Jahren rechnen. Das scheint mir wenig klug zu sein.« (Robert Habeck im »Tagesthemen«-Interview, 20.11.2023).

Wenn Habeck da so zurückhaltend von »Investitionen in die Zukunft« redet, die einen längeren Atem erfordern, dann ist jedenfalls mehr gemeint als eine Reihe von Vorschüssen, die erst nach langer Zeit zurückfließen. Gemeint ist offensichtlich die nachhaltige Bedeutung des umfassenden Aufbruchs, der Deutschland jetzt sofort gelingen muss, wenn es in der nahen und fernen Zukunft überhaupt noch die Rechnungen anstellen will, die sich für eine Macht wie Deutschland gehören. Und bei dem, was der Nation laut Habeck da wegbricht, sind das sehr weltmächtige Rechnungen. Denn Deutschland hat es nicht »nur« mit einem Krieg hie und einer neuen ökonomischen Konkurrenzlage da zu tun. Die gesamte ökonomische und strategische Grundlage seines Haushaltens ist weggebrochen: die totale Verfügbarkeit sowohl seines wichtigsten Energielieferanten als auch seines wichtigsten Markts für die Bedürfnisse deutscher ökonomischer Konkurrenzmacht; insbesondere die allseitige Unterordnung unter die US-amerikanische Militärgewalt. Damit geht das Geschenk geklärter Gewaltverhältnisse und Konkurrenzbedingungen verloren, die Deutschland nur noch auszunutzen brauchte. Woraus nur eines folgen kann: Deutschland muss selbst Herr über seine Lebensbedingungen werden, d. h. für die Gewalt sorgen, von der seine friedliche Weltbenutzung schon immer gelebt hat.

So bespricht die Regierung den Imperialismus ihrer Nation: als das Gebot, dass Deutschland in einer Welt von nicht mehr ganz so freundlichen bis feindlichen Weltmächten die Konkurrenz- und Gewaltverhältnisse, die es ausnutzt, selbst im Griff haben muss, und dass deswegen ein »intelligenteres«, nämlich weniger formell restriktives Haushalten vonnöten ist. Was aus diesem kleinen Einblick in die Lage der imperialistischen Konkurrenz für das mit einer Haushaltsdebatte beglückte Publikum also folgen soll, ist die Erkenntnis, dass sich eine Politik nach Kassenlage verbietet.

Was nun daraus für den Haushalt folgt? Erst einmal gar nichts. An der Stelle hört nämlich das Verständnis eines liberalen Finanzministers auf, mag er auch noch soviel Verständnis haben für die außerordentlichen militärischen wie globalkapitalistischen Ambitionen der Nation: »Die Schuldenbremse ist eine Erfolgsgeschichte. Sie beendete den Trend einer chronisch ansteigenden Staatsverschuldung. Zugunsten nachfolgender Generationen wirkte sie steigenden Zinslasten und der Einengung der haushaltspolitischen Spielräume der Zukunft entgegen. Die Schuldenbremse wirkte präventiv gegen Staatsschuldenkrisen, wie sie andere Länder der Euro-Zone in den Jahren von 2010 an erlitten haben. Sie sorgt für eine ausgezeichnete Bonität unseres Landes an den Finanzmärkten. Das ermöglichte es, in kurzer Zeit große Finanzvolumina zu vertretbaren Konditionen an den Kapitalmärkten zu beschaffen, um die wirtschaftlichen und sozialen Kosten der Energiekrise 2022 abzufedern. Vor diesem Hintergrund sollten wir die Schuldenbremse weder abschaffen noch schleifen, sondern schlicht einhalten« (Gastbeitrag von Christian Lindner und Marco Buschmann in der FAZ, 2.12.2023).

Die Folge ist ein ziemliches Hin und Her in der Regierung, schließlich ein Haushaltskompromiss, der allen Regierungsparteien im wesentlichen recht gibt: Ihre großen Ziele und Aufgaben bleiben großteils intakt, die Schuldenbremse bleibt es auch. Theoretisch eine Lehre über die finanzielle Unabhängigkeit und Abhängigkeit einer kapitalistischen Staatsgewalt im allgemeinen sowie über das besondere Verhältnis zwischen einer schwergewichtigen Macht in imperialistischer Aufbruchsstimmung und dem Finanzkapital, das es dafür zu nutzen gilt.

Normalfall Staatsverschuldung

Was die Eigenart der Staatsverschuldung im allgemeinen betrifft: Auch wenn hierzulande die Lüge nicht aussterben will, dass eine Regierung nur soviel ausgeben kann, wie sie einnimmt, so gehört doch die Einsicht in die Notwendigkeit und den Nutzen des Kredits zur Qualifikation und Praxis eines jeden Finanzministers: Er geht selbstverständlich aus von, wirtschaftet nämlich mit der Emanzipation der finanziellen Potenz der Staatsgewalt von den Schranken, die das Steueraufkommen ihr setzt. Das gilt erst recht deswegen, weil das Sprudeln dieser Geldquelle fiskalische Zurückhaltung erfordert – insbesondere bei denen, die viel Geld haben, deren Einkünfte aber eben Kapital, insofern zur weiteren Vermehrung vorgesehen sind.

Ebenso gewiss ist der Preis, der für die so erkaufte Unabhängigkeit der Staatsgewalt kontinuierlich bezahlt werden muss: der Zins. Der muss zwar für sich kein Problem sein, stellt eben die Kost der unerlässlichen Freiheit dar; doch damit der Zugriff auf die Finanzmärkte, auf denen der Kredit zu erwerben ist, ein schlagkräftiges Instrument der Nation bleibt, statt sich zu einer Belastung für sie auszuwachsen, muss eine Bedingung kontinuierlich erfüllt werden: Als Schuldner muss die staatliche Hoheit die Autorität der finanzkapitalistischen Internationale praktisch anerkennen, d. h. dem Eigennutz einer fremden Instanz entsprechen. Sie muss sich einem kritischen Vergleich mit allen anderen – kommerziellen wie staatlichen – Nachfragern nach Kredit bzw. Anbietern von Verdienstgelegenheiten aussetzen, sich als Konkurrent um den Kredit bewähren, den die Agenten dieser Instanz in ihrer unermüdlichen Suche nach der besten Kombination aus Sicherheit und Rendite zu vergeben haben.

Dabei hat eine Staatsgewalt, die überhaupt kein eigenes Geschäft betreibt, also Geld allenfalls in übertragenem Sinne »investiert«, einem besonderen Erfolgskriterium zu genügen. Sie muss beweisen, dass sie mit der kreditmäßigen Freiheit, die sie sich für die Bewältigung ihrer hoheitlichen Aus- und Aufgaben nimmt, für ihre ökonomische Basis aufs Ganze gesehen und im Ergebnis keine unproduktive Last, sondern eine Produktivkraft ist. Wenn ein Haushalt kontinuierlich davon zeugt, dass der Staat mit all seinen Ausgaben eine wachsende kapitalistische Ökonomie regiert, die Ausbeutung der Arbeit auf und von seinem Standort aus konkurrenztüchtig ist, dann beweist er damit eben umgekehrt, dass er es vermag, eine ganze nationale Ökonomie zu einer für seine Finanzmacht produktiven Grundlage herzurichten. Dann sind die Schulden, die er macht, eine Vorwegnahme von gelingenden Geschäften im großen Stil, akkumulierendes Kapital im nationalen Maßstab. Das macht ihn – bzw. seinen Geldbedarf und die Währung, in der dieser beziffert und befriedigt wird – zu einem sehr konkurrenzfähigen Angebot, das das Finanzkapital nicht ablehnen kann. Ein Staat vom Schlage Deutschlands tritt also in diesem Sinne an seine Krediteure nicht als abhängiger Nachfrager nach Geld heran, sondern als eigenständiger Anbieter von Kapital: als Emittent von Wertpapieren, die in den Händen der Finanzakteure nicht nur selbst Vermögen sind, sondern als sichere Grundlage für die Vermehrung ihres Vermögens, die Ausweitung ihrer Kreditgeschäfte dienen.

Der Ertrag, den solche Papiere »abwerfen«, gilt sogar als Richtlinie dafür, was andere zinsbringende Vermögensstücke als solche überhaupt wert sind. Hinter den emittierten Papieren selbst steht immerhin: der herrschaftliche Garant der Ordnung, unter der auch das Finanzkapital sein Geschäft macht; der Schöpfer und Garant des Stoffs, mit dem es sein Geschäft macht, nämlich des Geldes, in dem es sein Kapital beziffert und vermehrt; die unverzichtbare Quelle von »Liquidität« in guten und erst recht in schlechten Zeiten. Die praktizierte Anerkennung der staatlichen Abhängigkeit vom Urteil des internationalen Finanzkapitals ist also kein Fall von Unterwerfung, sondern eine sehr ergiebige Methode seiner Inanspruchnahme.

Gerade deswegen steht für einen Lindner fest, dass die Einhaltung der Schuldenbremse für ein Land wie Deutschland kein Problem, sondern Mittel für alles ist, was es vom Finanzkapital braucht und nutzt: Die Schulden dieses Landes finanzieren Wachstum, eilen ihm in einer Weise voraus, die durch das Wachstum selbst ein ums andere Mal gerechtfertigt wird. Für die dafür nötige Solidität, für die Sicherung der Grundlage der finanziellen Freiheit, die der deutschen Ökonomie und der deutschen Macht guttut, gibt es die Schuldenbremse.

Entschiedene Sondermaßnahmen

Damit ist man beim besonderen Fall einer deutschen Regierung, die sich auf diesen erfolgreichen Normalfall verlässt, um über ihn entschieden hinauszugehen. Das betrifft vor allem den Haushaltsposten, mit dem die Regierung die große »Zeitenwende« der Nation eingeleitet hat: ein 100 Milliarden Euro schweres Sondervermögen für den Auf- und Umbau der Bundeswehr. Die einschlägigen Schulden, soviel ist der Regierung von vornherein klar, sind mit der Schuldenbremse nicht zu vereinbaren; damit das zu finanzierende militärische Aufbauprojekt dadurch nicht ausgebremst wird, wird sie umgangen. Mit der erforderlichen Zustimmung von mehr als zwei Dritteln des Bundestags wird dieser Posten aus dem normalen Haushaltsrahmen herausgehoben und selbst in der Verfassung verankert. Programmiert ist damit eine sprunghafte Vergrößerung der nationalen Gewaltpotenzen – und zwar nicht als einmalige Ausgabenaktion, sondern zur Etablierung eines neuen, langfristig zu haltenden Niveaus von militärischem Zerstörungspotential.

Das ist die neue Normalität, auf die die Nation sich einzustellen hat: »Die Bundeswehr muss personell und materiell jederzeit durchhaltefähig einsatzbereit sein. Die neue Qualität der Bedrohung unserer Sicherheit und die brutale Realität des Krieges in der Ukraine verdeutlichen, dass wir unsere Strukturen und Prozesse am Szenario des Kampfes gegen einen mindestens ebenbürtigen Gegner ausrichten müssen: Wir wollen diese Auseinandersetzung nicht nur gewinnen, sondern wir müssen. Dies gibt den Takt vor« (Verteidigungspolitische Richtlinien 2023).

Mit »ebenbürtigem Gegner« sind natürlich erst einmal die Russen gemeint. Es ist aber sachgerecht, dass die Formulierung des Anforderungsprofils an die Bundeswehr hier abstrakt und allgemein gehalten wird. Das macht nämlich deutlich, dass die Zeitenwende für die Bundeswehr zwar in der Feindschaft gegen Russland ihren Ausgangspunkt und ihren ersten, entscheidenden Gegenstand hat, dass sie aber auf einen Aufbruch fundamentalerer Art zielt: Deutschland wappnet sich für diese epochemachende Auseinandersetzung unter dem Gesichtspunkt, was sich für eine Macht wie Deutschland gehört. Maß nimmt die Regierung dabei an einer direkten kriegerischen Auseinandersetzung mit der russischen Militärmacht; das freilich nicht auf sich allein gestellt, sondern zusammen mit der mächtigsten Kriegsallianz der Weltgeschichte; das freilich nicht als irgendein Verbündeter, sondern als »Rückgrat der kollektiven Verteidigung in Europa«, als entscheidende europäische Schutzmacht in der NATO; das wiederum nicht als Ersatz für die Superführungs- und Schutzmacht USA, sondern als deren exklusiver, führender Partner in Europa, als Garant des europäischen Pfeilers des transatlantischen Bündnisses. Auf dieser Basis soll Deutschland die gewaltsame Potenz entfalten, die es ihm erlaubt, so viel kriegerische »Verantwortung« zu übernehmen, wie sie die Geschäftsordnung eines globalen Friedens erfordert – erst recht von einer Macht, die diesen Frieden so ertragreich zu nutzen versteht.

Die jüngsten schlechten Nachrichten aus Washington, dass nicht nur die Fortsetzung der für den Krieg unverzichtbaren Gelder und Gewaltmittel der Supermacht für Kiew auf der Kippe steht, sondern auch und vor allem die Schutz- und Führungsmacht für Berlin wackeln könnte, sind für dieses Vorhaben ein einziger Booster: Deutschland muss nun erst recht die Wende schaffen von der zivilen ökonomischen Macht, die von geklärten Gewaltverhältnissen, damit letztlich von der obersten US-amerikanischen Weltgewalt profitiert, hin zu einer militärischen Macht, die auch die globalen Gewaltverhältnisse maßgeblich mitgestaltet und vor keiner kriegsträchtigen Feindschaft zurückschreckt, wenn sie sein muss. Von sich selbst verlangt die Nation damit zunächst das, was für circa drei Tage ein kontroverses Wort war: »Kriegstüchtigkeit«.

Von den Finanzmärkten verlangt die Nation: sehr viel geldwertes, zinstragendes Vertrauen. Und zwar in sich als einen Schuldner, der das viele Geld in ein Projekt steckt, das mit der Ankurbelung eines entsprechend großdimensionierten nationalen Wirtschaftswachstums überhaupt nichts zu tun hat, und der dennoch die Stirn hat, die einschlägigen Schulden als »Vermögen« zu behandeln. Letzteres ist jedenfalls mehr als ein Terminus technicus für einen Haufen Haushaltsmittel, die der deutsche Staat sich damit beschafft; es ist ein passender Ausdruck dafür, wie wenig der deutsche Staat mit seinem gewaltigen Finanzbedarf, der in seine normale Haushaltsordnung gar nicht reinpasst, als Bittsteller in der Not gegenüber den Märkten auftritt. Genau umgekehrt tritt die Regierung erkennbar mit dem Selbstbewusstsein an, der finanzkapitalistischen Internationale damit ein sehr großes, eigentlich unschlagbares Angebot zu machen, das nicht nur auf ein Interesse, sondern auf einen sehr großen, stetigen Bedarf der Märkte trifft.

Worauf die Finanzwelt dabei setzen und spekulieren soll, ist mehr als der angesammelte gute Kredit eines traditionellen Exportweltmeisters und der europäischen ökonomischen Führungsmacht, also die Aussicht darauf, dass die deutsche Wirtschaft – durch einen entsprechenden Boom in der Rüstungsindustrie gestärkt – die großen Summen über die Zeit schon wird reinwirtschaften können. Sie soll auch und gerade auf die ökonomische Überzeugungskraft des militärischen Aufbruchsprojekts selbst spekulieren – darauf, was damit aus der deutschen Macht wird. Immerhin: Wenn von ihr mehr Gewalt ausgeht, dann stärkt sie sich gerade als das, was sie als höchste Gewalt erst recht dieser Güteklasse für das Finanzkapital ist: »Rückgrat« einer kollektiven Ordnungsgewalt, deren europäische und globale »Friedensordnung« den Spekulationsentscheidungen des Finanzkapitals eine ganze Welt zugänglich macht; Quelle und Garant eines der wenigen Gelder, mit denen diese Ordnung wirklich weltweit finanzkapitalistisch zu erschließen ist und in denen die entsprechenden Erträge so sicher aufzubewahren sind, dass sie jederzeit für die nächsten Geschäfte verfügbar sind.

Dafür steht also das punktuelle Umgehen der deutschen Schuldenbremse. Und dafür steht zugleich das Insistieren auf ihrer fortgesetzten Geltung. Deutschland braucht – so die Einigkeit in der Koalition wie in der christlichen Opposition – jetzt sofort Gewaltmittel in einem Maße, das mit seiner Haushaltsordnung nun einmal nicht zu vereinbaren ist. Gerade deswegen – so die Beteuerung insbesondere des regierenden Finanzministers – braucht es auf Dauer eine Ökonomie, die diese Potenz zur neuen Normalität macht. Wer europäisches »Rückgrat« der transatlantischen Militärallianz sein will, der muss das auch im Kreuz haben, also dauerhaft »wirtschaftlich leistungsfähig« sein. Im allgemeinen ist das eine Klarstellung über das letzte staatliche Wozu der zivilen Leistungen des Kapitalismus: Sie sind ein Mittel der imperialistischen Geltung der Hoheit, die mit ihrem Gewaltmonopol die Ordnung und mit ihrer Geldhoheit den Stoff stiftet, mit dem sie und alle anderen haushalten.

Im besonderen ist das ein aparter Anspruch an die ökonomische Machtbasis des deutschen Staates. Von der ist – einerseits – schlicht mehr vom selben verlangt: mehr kapitalistisches Wachstum, um die um so ausgiebigere Inanspruchnahme der staatlichen Kreditwürdigkeit Jahr für Jahr zu beglaubigen. Andererseits steht für die Koalition ohnehin längst fest, dass es beim bloßen Mehr an Wachstum nicht bleiben darf. Auch hier braucht Deutschland unbedingt einen umfassenden Um- und Aufbruch, für den die regierende »Modernisierungskoalition« ebenfalls ein eigenes Sondervermögen namens »Klima- und Transformationsfonds« eingerichtet hat, das als »Allzweckwaffe« für eine generelle Standortaufmöbelung dienen soll. Das Wachstum in der Zukunft gibt es nur als »grünes« und durchdigitalisiertes; das wiederum ist nur dann ein Mittel des nationalen Wohlstands, wenn der nationale Kapitalismus bei der Entwicklung und Verwendung der dazugehörigen Technologien hinter den anderen Weltmächten nicht hinterherrennt, sei es bei E-Autos, der Entwicklung und dem Einsatz von »grünen« Energieträgern oder bei der Produktion von den allgegenwärtigen, für fortschrittliche Waffentechnik und sonstige Zukunftstechnologien so entscheidenden Halbleitern. Gerade bei letzteren wird die strategische Qualität des ökonomischen Aufbruchs der Nation, wird die Relevanz des technologischen Fortschritts für die souveräne Gewalt des Staates deutlich: Angepeilt ist damit eine Standortaufrüstung, bei der die Ambition, die Beherrschung der Weltmärkte nicht den anderen zu überlassen, also selbst führend zu sein, ein Gebot nationaler Sicherheit ist. Es geht um die Eroberung von ökonomischen – energetischen, digitalen – Konkurrenzpositionen ausschließender Natur.

Ihre Inanspruchnahme für die Bewährung einer neuartigen imperialistischen Konkurrenz bekommen die Bürger derzeit sehr unmittelbar zu spüren: Die Kombination aus dem dringlichen Gebot der nationalen Sicherheit Deutschlands als russlandfeindliche Militärmacht und dem ebenso dringlichen Gebot der weltmarktmäßigen Überlegenheit Deutschlands als Konkurrent gegen die USA und China schlägt sich prominent in Form von gestiegenen Kosten für Energie und sehr prominent mit teuren neuen Vorgaben fürs Heizen nieder. Und auch hier wird die Forderung an die Bürger mit einer Förderung verknüpft, die dafür sorgen soll, dass die geforderte »Transformation« auch bei ihnen geht.

Mehr zu diesem und zu weiteren Themen in Heft 1-24 der Zeitschrift Gegenstandpunkt: https://de.gegenstandpunkt.com/

Theo Wentzke schrieb an dieser Stelle zuletzt am 13. März zur Frage, was die Hamas mit der »Al-Aqsa-Flut« bezweckt hat.

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  • Leserbrief von Doris Prato (11. April 2024 um 12:02 Uhr)
    Dabei ist die BRD an der Seite der NATO im Ukraine-Krieg wieder vor den Toren Moskaus angekommen und watet auch mit der Übernahme des »Russenhass« in den Fußstapfen der Hitlerwehrmacht. Wie anders sonst soll man es sehen, wenn die heutige Außenministerin Annalena Baerbock einige Monate vor ihrem Amtsantritt in einem Interview mit der US-amerikanischen Denkfabrik Atlantic Council den Endkampf ihres Großvaters in Hitlers Wehrmacht gegen die heranrückende Rote Armee als »wertvollen Beitrag für ein geeintes Europa« lobpreiste, und das auch für Olaf Scholz kein Hindernis war, sie dann zur Chefdiplomatin der BRD zu berufen. Oder wenn im deutschen Bundestag Vertreter der Ukraine, wie in den USA und anderen EU-Ländern auch, die die Waffen-SS-Division »Galizien« und die Angehörigen dieser berüchtigtsten Massenmörderorganisation des »Dritten Reichs« verehren, auftreten können und unwidersprochen auch in Gegenwart des SPD-Kanzlers Scholz den Faschistengrußes »Slawa Ukraini!«, der ukrainischen Variante des deutschen »Sieg Heil!«, aussprechen können. Das widerspiegelt, dass die BRD ein Regime unterstützt, dessen Politik, das Militär, der Sicherheitsapparat, Wissenschaft und Kultur von Faschisten durchsetzt sind. Kaum nötig zu erwähnen, dass die Lieferungen von Waffen und Kriegsgerät der BRD an die Ukraine auch an die für Kiew kämpfenden Verbänden der fashistischen OUN, den »Rechten Sektor« und an die in die ukrainische Armee eingegliederten »Asow« Verbände gehen. Welches Ausmaß der in der BRD verfolgte »Russenhass« wieder angenommen hat, verdeutlichte ein Interview der ZDF-Journalistin Anna Loll, die prorussische Bewohner des Donbass vor laufender Kamera als »Untermenschen« bezeichnete. Diese Aussage wurde dann zwar nicht ausgestrahlt, aber von Unbekannten in den sozialen Netzwerken verbreitet. Von einer chauvinistischen Pervertierung zeugte auch, was die Münchner Politikwissenschaftlerin Florence Gaub in einer »Markus Lanz«-Talkshow erklärte: »Ich glaube, wir dürfen nicht vergessen, dass, auch wenn Russen europäisch aussehen, dass es keine Europäer sind, im kulturellen Sinne«. »Einst in den finstersten Tiefen der Kollektivpsyche abgelagerte, aber nie überwundene nazistische Ideologeme finden im gegenwärtigen deutschen Zustand der durch das Bündnis der NATO mit dem ukrainischen Faschismus forcierten Verhetzung der Gesellschaft wieder zurück ins Bewusstsein – auch und vor allem in das der Propagandisten dieser verabscheuungswürdigen Allianz«, fasste die bekannte deutsche Journalistin Susann Witt-Stahl in junge Welt zusammen.

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