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Aus: Ausgabe vom 08.04.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Chronik und Moral

Christoph Hein wird 80
Von Kai Köhler
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Sympathie für die Schwachen: Schriftsteller Christoph Hein

Will jemand in ein- oder zweihundert Jahren erfahren, wie man in der DDR und wie in der Bundesrepublik nach 1990 gelebt hat, so wird es keine schlechte Idee sein, die Romane von Christoph Hein zu lesen. Hein kennt den Alltag und die Funktionsweise von Institutionen, und er weiß sie detailreich zu schildern, ohne dass die Einzelheiten den Spannungsbogen zersplittern.

Des öfteren hat man Hein als Chronisten bezeichnet, und das stimmt in mehrerlei Hinsicht. Seine Sprache ist so schmucklos wie präzise. Seine Erzähler drängen kein moralisches Urteil auf. In »Horns Ende« (1985) ergeben sich die Geschehnisse während eines Sommers in einer Kleinstadt in der frühen DDR aus den Perspektiven von fünf Beteiligten. Dabei haben die Figuren, auch wenn sie erkennbar nicht die Meinung ihres Autors vertreten, ihr eigenes Recht.

Hier, wie auch später, sind die Lebensverläufe selten glücklich. Im besten Fall richten sich die Leute irgendwie ein, wie Claudia in »Der fremde Freund« (1982, im Westen unter dem Titel »Drachenblut«). Sie schützt sich durch einen emotionalen Panzer vor Verletzungen. Traumatische Ereignisse haben die Figuren beschädigt. Ihr Leben ist eigentlich ein Nachleben, ohne Perspektive auf eine bessere Zukunft. Und mit dieser Diagnose, die eine Anklage ist, kommt doch wieder Moral in die Chronik.

Ist die Vergangenheit in den Romanen meist eine DDR-spezifische, so wird es nach 1990 nicht besser. Zum Beispiel kommt in »Weiskerns Nachlass« (2011) und den Schlusspassagen von »Verwirrnis« (2018) der aktuelle Wissenschaftsbetrieb vor, und zwar angemessen negativ. Hein ist sich über die Jahrzehnte treu geblieben, und das ist durchaus eine Qualität. Er maß die DDR an ihren Ansprüchen und wertete sie als »stalinistisch« ab. Das gegenwärtige Deutschland sieht er nicht gnädiger.

Zugleich bezeichnet dies Heins Grenze. Die Moral ergibt sich aus der Sympathie für die Schwachen, der Chronist blickt auf die Einzelheit. Das Ganze, die Totalität, kennt er nicht. So bleibt es ein Rätsel, weshalb die DDR im Kalten Krieg wurde, wie sie war. Ebensowenig kommt in den Blick, warum die Nachwendewelt so garstig ist. Hein hat sich nicht verbiegen lassen und verdeutlicht die Kolonisierung der DDR. Wie aber wäre die Tristesse eines genau geschilderten Alltags zu verknüpfen mit der Gegenwart des Imperialismus?

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