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Aus: Ausgabe vom 08.04.2024, Seite 8 / Ansichten

Campino des Tages: Farin Urlaub

Von Susanne Knütter
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Jüngerer, etwas entfremdeter Avatar Farin Urlaubs im Bundestag (aus dem mit KI produzierten Video zum Song)

Verteidigen, was ist, lautet die Devise von erfolgreichen Musikern. Auch Tote-Hosen-Sänger Campino hat mal den einen oder anderen richtigen Satz gesagt. Inzwischen aber sind ihm einige seiner früheren Auftritte peinlich. Etwa als er in einer Talksendung herumpöbelte. In meiner Erinnerung kotzte er sogar auf die Bühne. Sicherlich nicht ohne Grund. Aber davon will der erwachsen gewordene Punkrocker nichts mehr wissen. Inzwischen ist er Professor. Oder Kassierer-Sänger Wölfi Wendland? Der ist in der SPD.

Da sollte es nicht überraschen, wenn Ärzte-Sänger Farin Urlaub ein Lied über Demokratie schreibt. Das geht so: »Sie ist vielleicht die mächtigste Idee der Galaxie – geboren in Griechenland / Millionen gibt sie Hoffnung, Diktatoren fürchten sie …« Die Botschaft: Demokratie ist keine Herrschaftsform, die den Kapitalisten noch dazu ganz besonders gut in den Kram passt. Sie ist ein Wert an sich, schalalala. »Sie ist das Beste, was wir haben – aber längst noch nicht perfekt …« uhuhuhu. Wenn du das nicht glaubst, liegt das nur daran, dass du nicht hart genug dein Wahlrecht in Anspruch nimmst: »immer nur zu meckern auf das blöde Scheißsystem, das ist schön bequem / du bist nicht Teil der Lösung, du bist selber das Problem, und feige außerdem …« Die Lektion: Kritik hat gefälligst konstruktiv zu sein, yeahyeahyeah.

Was lernen wir daraus? Die Ärzte waren noch nie eine linke Band. Wenn doch, wären sie nicht auf die Idee gekommen, Politikverdrossene mit einem Vortrag über Politikverdrossenheit zu überzeugen. Vor allem aber würden sie wissen, dass man Rechte nicht bekämpfen kann, indem man blind verteidigt, was ist. Aber dass es um den Vormarsch der Rechten ohnehin nur vordergründig geht, macht das dazugehörige Video deutlich. Es geht um die Verteidigung der Demokratie nach westlichem Vorbild.

Das Interessanteste an dem Song ist noch sein Untertitel: »Our Bass Player Hates This Song«. Mitspielen muss Rod González dennoch.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf G. aus Hannover (10. April 2024 um 19:20 Uhr)
    Die Band »Die Ärzte« scheint die Realität nicht zu kennen, wenn sie textet: »Wie wär’s mit Wählen geh’n? Dein Kreuz gegen Hakenkreuze, damit fängt es an. Dem Hass zu widersteh’n«. Zu dumm, dass der Hass quer durch das gesamte politische Spektrum bedient wird. Wenn nicht gegen Ausländer, dann gegen Russen und Putin. Der größte Feind der Demokratie sind nicht Herren wie Putin oder Kim Jong-Un, wie das Video glauben machen will. Der größte Feind der Demokratie steht vielmehr im eigenen Land. Es ist – wie schon Aristoteles wusste – die Herrschaft des Pöbels. Davon gibt es im Westen eine ganze Menge. Es gilt doch vor allem das Gesetz des eigenen Vorteils. Die USA wollten Nord Stream 2 stoppen, um ihre Vorherrschaft zu sichern. Als das mittels Sanktionen nicht funktionierte, hatte man – Plan B – die Ukraine mit diversen Rüstungs- und Unterstützungsversprechen zu aggressiven Tönen gegen Moskau angestiftet. Die Minsker Vereinbarungen wurden missachtet und statt dessen explizit die militärische Rückholung von Krim und Donbass angekündigt. Immer wieder. Ein Selenskij »darf« das. Und zwar so lange, bis Putin es glaubte und bis die Gewalt derart eskalierte, dass er eingriff. Jetzt, wo Nord Stream zerstört und Deutschland erfolgreich aus dem russischen Orbit rausgebrochen worden ist, lassen die USA die Ukraine wie eine heiße Kartoffel fallen. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan. Der Mohr kann abtreten. Die USA haben ihre geopolitischen Interessen mit diktatorischen Mitteln, mit Gewalt und Intrigen, erfolgreich gewahrt. Gaddhafi hatte auf Atomwaffen verzichtet und wurde gelyncht. Saddam Hussein hatte in einer umfangreichen Dokumentation bewiesen, dass er keine Massenvernichtungswaffen habe – und er wurde hingerichtet. Kim Jong-Un hingegen hat die Atombombe, und sein Land wird gottlob einmal nicht vom Westen überfallen. Fürchten Diktatoren wirklich die Demokratie, wie »Die Ärzte« meinen? Nein! Sie fürchten vermutlich viel mehr die pöbelhafte Aggressivität des Westens.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marc P. aus Cottbus (7. April 2024 um 22:52 Uhr)
    Wessen Vorstellung von Demokratie, dessen, was das Wort Demokratie bedeutet (»Herrschaft des Volkes«) und wie Demokratie tatsächlich gestaltet sein kann, sich auf das derzeitige, real existierende parlamentarische System dieses Landes beschränkt, stellt ein geringes historisches und politisches Wissen unter Beweis. Diesen Mangel auch noch derart in der Öffentlichkeit zur Schau zu stellen, zeigt darüber hinaus ein hohes Maß an ungerechtfertigtem Vertrauen in die eigene Wahrnehmungs- und (Selbst-)Reflektionsfähigkeit. Dass die Ärzte, in treuer Wiedergabe eines bürgerlichen Mythos, Demokratie als eine Erfindung (ausgerechnet) der patriarchalischen und sklavenhaltenden altgriechischen Stadtstaaten bezeichnen, bestätigt den Eindruck intellektueller (Selbst-?)Beschränkung. In Wirklichkeit repräsentiert Demokratie nicht die Errungenschaft einer bürgerlichen Klassengesellschaft, sondern ganz im Gegenteil die Urform politischer Organisation. Der Homo sapiens und vermutlich auch dessen Vorgänger haben sich überhaupt erst in dieser Form des Gemeinwesens als Spezies entwickeln können (s. a. Friedrich Engels, »Der Ursprung der Familie«). Was auf diese Urgesellschaften folgte, waren sozial hierarchisch organisierte Gesellschaften mit zunehmend degradierten Rudimenten von Demokratie, von denen die altgriechische Polis nur eine von vielen war. Aber vielleicht sollte man auch nicht zu viel interpretieren und reflektieren zum Liedtext einer Band, die für literarische und gleichermaßen empathische Juwelen verantwortlich zeichnet wie »Die fette Elke« und »Claudia hat ’nen Schäferhund«, welche die Musiker erst vor einigen Jahren aus ihren Live-Programmen genommen haben.

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