junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Donnerstag, 2. Mai 2024, Nr. 102
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Ausgabe vom 08.04.2024, Seite 5 / Inland
Preissteigerungen

Mehr Armut, mehr Diebstähle

Polizeistatistiken konstatieren sprunghaften Anstieg bei Ladendiebstahl. Handelsverbände fordern mehr Repression gegen den »Fünf-Finger-Rabatt«
Von Gudrun Giese
5.jpg
Du brauchst Zahnpasta? Darauf kommt es nicht an

Wachsende Armut treibt viele Menschen zum Diebstahl lebensnotwendiger Produkte. Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Ladendiebstähle nach Angaben der polizeilichen Kriminalstatistiken sprunghaft angestiegen. Die Lebensmittelzeitung hat die entsprechenden Daten aus verschiedenen Bundesländern für ihre Ausgabe vom vergangenen Donnerstag ausgewertet. Danach lagen in Hamburg und in Sachsen-Anhalt die Steigerungsraten bei den Ladendiebstählen mit 38,5 bzw. 31,3 Prozent am höchsten. Doch auch in Brandenburg, Sachsen, Berlin, Bayern, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz nahmen die Diebstähle im Einzelhandel deutlich zu. Das EHI Retail Institute, Forschungs- und Bildungseinrichtung des Handels, schätzt die Dunkelziffer zudem auf über 98 Prozent. Die kriminalpolizeiliche Bilanz des Bundes für 2023 soll voraussichtlich in dieser Woche vorgestellt werden.

NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) nannte den Anstieg »irre viel«. Aus Brandenburg hieß es, die Fallzahlen gingen sogar über das Niveau von 2019 – vor der Coronapandemie – hinaus. Der Hauptgrund für den Anstieg ergibt sich aus dem Bericht der hessischen Polizei: »Bei den entwendeten Gütern handelt es sich im Schwerpunkt um die des täglichen Bedarfs«, Lebensmittel, Getränke, Kosmetik wie auch Alkohol und Tabak werden ohne Bezahlung eingesteckt. Dirk Fornoff, Leiter der Abteilung Einsatz im Polizeipräsidium Darmstadt, führte die steigenden Fallzahlen bei den Ladendiebstählen so auch vor allem darauf zurück, dass viele Menschen wegen der steigenden Preise immer weniger Geld zum Leben hätten, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung in ihrer Onlineausgabe vergangenen Dienstag berichtete.

In der Region Südhessen fiel auch auf, dass sich Diebstähle in personalfreien Selbstbedienungsläden häuften. Ladendiebe gelangten zusammen mit Kunden ins Geschäft, wenn diese die Tür öffneten. Drei dieser Märkte gibt es in Darmstadt, und die dortigen Diebstähle machten 40 Prozent der Gesamtsteigerung bei dem Delikt aus. Zwar würden die Läden mit Kameras überwacht, aber der spätere Täternachweis sei schwieriger, als wenn ein Ladendetektiv den Dieb ertappt hätte, so Fornoff. Es sei nun geplant, den Zugang zu den Selbstbedienungsgeschäften zu erschweren und sie insgesamt besser zu sichern.

So muss die Ursache nicht angetastet werden: Die Polizeibehörden der Länder verweisen laut Lebensmittelzeitung darauf, dass sich die Täter meist in »prekären Lebenslagen« befänden. Frank Horst, Leiter des Fachbereichs Sicherheit beim EHI Retail Institute, urteilte, dass »höhere Preise und Werte Diebstahl attraktiver« machten. Allerdings sei Armut keine Rechtfertigung für Diebstahl, meinte er, sagte aber nicht, wann Diebstahl sonst gerechtfertigt sei. Die Handelsunternehmen machen sich wegen der Entwicklung große Sorgen, haben aber wohl weniger im Sinn, die Preise für Grundnahrungsmittel zu senken.

Die Strafverfolgungsbehörden müssten konsequenter vorgehen, mahnte der Handelsverband Sachsen. »Eigentumsdelikte dürfen nicht als Bagatellen betrachtet werden«, sagte dessen Hauptgeschäftsführer René Glaser. »Staatsanwaltschaften und Gerichte sollten bei Ladendiebstählen nur in Ausnahmefällen auf die Möglichkeit der Verfahrenseinstellung zurückgreifen und Taten statt dessen konsequent verfolgen und strafrechtlich sanktionieren.« Obwohl die Einzelhandelsunternehmen viel in den Diebstahlschutz investierten, nehme der Ladendiebstahl spürbar zu, beklagte Glaser. Nun müsse als Antwort ein straf- und strafprozessrechtlicher Rahmen geschaffen werden, der strikte »repressive Maßnahmen der Polizei und Justiz sicherstellt«. Im Knast müssen sich die ertappten Delinquenten zumindest für die Dauer ihrer Haftstrafe nicht um die Beschaffung von Lebensmitteln und Duschgel kümmern.

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. Alle Standorte finden Sie unter diesem Link.

  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Steffen W. aus Berlin (8. April 2024 um 17:22 Uhr)
    Vor etwa 25 bis 33 Jahren hatte ich Familie mit zwei Kindern. Die Mutter der Kinder war dauerhaft erwerbslos. Bei den Jobs, die ich hatte, war es die Ausnahme, wenn das Unternehmen Lohn gezahlt hat. Teils war ich Tagelöhner. Die Behörden hat das alles überhaupt nicht gekratzt; da war keine Beschleunigung zu erreichen, mit denen war nicht zu reden und ich hatte den Eindruck, dass ich kein Einzelfall war. Die Not war so unglaublich groß, dass ich sogar auf die Idee kam, Schriftstücke zu erstellen, die Pfändungsbeschlüssen vom Gericht ähnelten und jeden Tag habe ich so ein Schriftstück zu einem Auftraggeber des Unternehmens gebracht, welches nicht zahlen wollte. Diese Rosskur hat zu sehr ruckartigen Zahlungen geführt. Natürlich war diese Vorgehensweise nicht rechtens, aber wen hat das interessiert, in der damaligen, völlig rechtlosen Zeit? Es war für mich völlig selbstverständlich, dass ich im großem Stil Lebensmittel zahlungsfrei aus dem Supermarkt geholt habe. Auch heute halte ich für legitim, Lebensmittel aus den Müllcontainern der Supermärkte und direkt zahlungsfrei aus den Märkten zu holen, wenn die Menschen so arm sind. Die Debatte ist auch völlig verkehrt. Wenn die Supermärkte Profite ohne Ende machen und die Verkäuferinnen schinden bis zum Gehtnichtmehr, beschweren sie sich auch nicht darüber, wenn sich da in der Hosentasche die fette Matte ansammelt. Ich kenne eine Frau, die Verkäuferin im feinen Westen in einem tariffreien Supermarkt war. Ihr Schicksal ist zum Weinen! Sie wurde durch Arbeit sprichwörtlich vernichtet. Das hebt keinen der Bonzen an. Nein, natürlich ist es völlig legitim, wenn arme Menschen sich im Supermarkt bedienen! Das fällt bei mir unter soziale Verantwortung der Kapitalisten. Strafen sind da völlig unsinnig. Das ist beim Nutzen von ÖPNV ohne Fahrschein. Es ist zu begrüßen, wenn mehr Menschen den ÖPNV nutzen, zumal die ohnehin unentgeltlich sein sollten. Es ist zu begrüßen, wenn arme Menschen etwas ordentliches essen. Dies ist ihr gutes Recht!
  • Leserbrief von Andreas Kubenka aus Berlin (8. April 2024 um 16:18 Uhr)
    Offenbar versuchen die Menschen – verzweifelt und laienhaft – zurückzustehlen, was ihnen mittels galoppierender Inflation bei Grundnahrungsmitteln und -waren geraubt wird! Gab es nicht einmal den Rechtfertigungstatbestand »Mundraub«? Darum geht es hier doch offenbar!
  • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (7. April 2024 um 23:49 Uhr)
    Kapitalismus ist Diebstahl, und zwar der größte in der Geschichte der Menschheit. Allerdings lässt sich der nicht auf diese Weise korrigieren.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (7. April 2024 um 23:26 Uhr)
    In den 50er und 60er Jahren war die Redensart »englisch einkaufen« durchaus geläufig und jedeR verständlich. Heutzutage tut man sich selbst im allwissenden Internet schwer, eine brauchbare Erklärung zu finden: »›Englisch einkaufen‹ bedeutet die widerrechtliche Ansichnahme von Sachen oder Ländern. Nach dem Vorbild der Engländer im 18. und 19. Jahrhundert, als diese die halbe Welt für sich in Anspruch nahmen.« (https://dict.leo.org/forum/viewGeneraldiscussion.php?idForum=4&idThread=1059681&lp=ende&lang=de). Man könnte auch kurz und bündig sagen: Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen.
  • Leserbrief von Holger K. aus Frankfurt (7. April 2024 um 22:15 Uhr)
    Wer da lange Finger macht bzw. diese einsetzt, hat nicht selten lange gedarbt und möchte nicht länger bloßer Ritter einer der zahlreichen Tafelrunden sein. Der notorische Appell doch gefälligst die bestehenden Gesetze einzuhalten, ist alles andere als magenfüllend und psychisch aufbauend. Selbst die in Aussicht gestellten angezogenen staatlichen Daumenschrauben gegen die kleinen Diebe, die großen werden bekanntlich meist geschont, schrecken selten jene ab, die eh auf dem letzten Loch ein tristes Liedlein pfeifen – müssen. In Frankreich z. B. besteht wenigstens der kleine Trost, dass abgelaufene Lebensmittel nicht einfach entsorgt werden können, vielmehr sind sie den Bedürftigen kostenfrei anzubieten. Nicht mal dazu reicht es im hiesigen Wertestaat. Seine Wertetafeln sind übrigens nicht kostenfrei. Zuweilen kann sich ein armer Schlucker daher noch nicht mal sich ein »Tafelerlebnis« angedeihen lassen. Früher tröstete man die Armen mit einem gemütlichen Platz im Jenseits. Da diese Nummer nicht mehr zieht, bleibt also nur noch »Knüppel aus dem Sack« seitens des Staates, mehr ist offensichtlich nicht drin.

Ähnliche:

  • Die Töpfe sind leer, die Köpfe auch: Mit der Ampel wird es keine...
    27.03.2024

    BRD bleibt auf Armutskurs

    Paritätischer legt Zahlen zu Armut für 2022 vor. Arm sind in der Bundesrepublik demnach vor allem Erwerbstätige, Rentner und Kinder
  • Ungerechte Verteilung der Startbedingungen: Zwei Millionen Kinde...
    13.09.2016

    Generation Hartz IV

    Neue Studie: Kinderarmut bleibt im Osten auf hohem Niveau. Der Westen holt auf. Besonders betroffen: Einelternfamilien
  • »Bei einem Verdienst von gerade einmal 2.330 Euro für eine Vollz...
    30.05.2015

    »Beschäftigten droht ein Alter in Armut«

    Im Einzelhandel laufen in verschiedenen Bezirken Tarifverhandlungen. Es gab ein schnelles, aber unzureichendes Angebot. Gespräch mit Jörg Lauenroth-Mago

Regio: