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Aus: Ausgabe vom 06.04.2024, Seite 11 / Feuilleton
Literatur

Kaiser Gabo

Zweimal Gabriel García Márquez: Sein Lektor restauriert einen letzten Roman, sein Sohn erinnert sich an seinen Tod
Von Stefan Gärtner
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Jede Variante am Rand erwogen: Gabriel García Márquez

»Dichten«, wusste Peter Hacks, »ist die größte Scheißarbeit, ausgenommen die schlechten Dichter«, denn denen fehlen die Skrupel, die die guten haben. Unter diesem Gesichtspunkt wäre Gabriel García Márquez, seit dem Nobelpreis von 1982 der Gott der iberoamerikanischen Literatur, jedenfalls ein guter, denn »was er am liebsten tat«, schreibt sein Lektor Cristóbal Pera im Nachwort des nachgelassenen Romans »Wir sehen uns im August«: »ein Adjektiv hier austauschen, ein Detail dort erwägen«. So soll es sein.

Das ist schon bei einer bloßen Rezension mitunter mühevoll, bei einem dicken Buch wie »Hundert Jahre Einsamkeit« (1967), dem Roman, der ­García Márquez weltberühmt machte und sich unglaubliche 30 Millionen Mal verkauft hat, ist es eine Herkules- oder eigentlich Sisyphusarbeit. Denn wenn Flaubert recht hat und es immer nur genau ein treffendes Wort gibt, heißt das hunderttausendfach Arbeit, und zwar von der Sorte, die kein Ende finden kann. Billy Wilder soll schlaflose Nächte damit verbracht haben, längst erschienene Filme im Kopf umzuschneiden, Arno Schmidt mied den Blick ins eigene Werk, und als Flaubert ein druckfrisches Exemplar seiner »Madame Bovary« in Händen hielt, hielt er den Roman sogleich für missraten. Auch Garciá Márquez begann erst im Alter wieder, sich selbst zu lesen, aus, wie vermutet werden darf, nämlichen Gründen; und weil die beginnende Demenz es dann auch erlaubte.

»Wir sehen uns im August«, in den späten 90er Jahren als Teil eines Erzählungszyklus begonnen, Ende 2004 nach fünf Rohfassungen abgebrochen – »Dieses Buch taugt nichts. Es muss vernichtet werden« – und jetzt aus dem Nachlass veröffentlicht, ist nicht ohne »kleine Mängel«, wie ­García Márquez’ Söhne Rodrigo und Gonzalo im Vorwort schreiben, nicht ohne »Stolperstellen« und »gewisse Unstimmigkeiten«. Trotzdem will Lektor Pera »den Respekt und das Staunen teilen, das ich auch nach Dutzenden von Malen beim Lesen empfand«; könnte trotzdem sein, dass einmal reicht. Die ­Geschichte um die langjährig verheiratete Ana Magdalena Bach, die einmal im Jahr das Grab ihrer Mutter besucht und sich irgendwann angewöhnt, die Fahrt auf die Insel, wo die Mutter beerdigt ist, zu erotischen Abenteuern zu nutzen, obwohl oder natürlich weil sie als Jungfrau in die Ehe ging, ist zwar noch keine Parodie auf die katholisch-tropische Freude am süßen – wir sagen nicht: süßlichen – Pathos, auf den Zugriff eines Autors, der »berauscht war vom Leben und der Mühsal der Lebenden«, wie es Rodrigo García in seinem Erinnerungsbuch »Abschied von Gabo und Mercedes« auf den Punkt bringt. (»Gabo« ist die Koseform von Gabriel, Mercedes war García Márquez’ Ehefrau, Rodrigos Mutter.) Sie ist aber doch ein Hinweis darauf, mit welchem Wasser hier gekocht wird, und sei es auch einst meisterlich gewesen: »Sie (…) legte sich neben ihn, betäubt vom Schlag ihres Herzens. Daraufhin gab er ihr einen unschuldigen Kuss, der sie bis ins Herz erschütterte, und er küsste sie weiter, während er sie Stück für Stück mit einer magischen Fingerfertigkeit auszog, bis sie in einem glücklichen Abgrund versanken.« Der Verlag wirbt mit dem Satz: »Eine Geschichte über die Liebe, wie nur Gabriel ­García Márquez sie schreiben konnte«, und dass da wenigstens ein Hündchen begraben liegt, ist immerhin möglich.

Pera sieht den kleinen Roman als »Wettlauf zwischen dem Perfektionismus des Sprachkünstlers und seinen schwindenden geistigen Kräften«, und es ist eine literaturphilosophische ­Frage, ob das Resultat nun sozusagen eine Unplugged-Version der García Márquezschen Prosa vorstellt oder etwas, was, da unautorisiert, gar nicht in der Welt sein dürfte. »Wir sehen uns im August« – in seinem starken novellistischen Strich immer noch besser als alles, was Denis Scheck so empfiehlt, aber doch wohl ein Gabriel García Márquez für Fans – ist interessant mithin als Meta-Literatur, die Einspruch zugleich herausfordert und unmöglich macht und den Umstand beleuchtet, dass ein Text im Werden wiederum Text ist, so autonom wie die Kunst, die er – ja, was eigentlich: genauso ist? Oder eben nicht ist?

»Er lehnte es strikt ab, unfertige Arbeiten zu zeigen oder aufzubewahren«, schreibt der Sohn, und wer immer der historisch-kritischen Versionswissenschaft, welcher seit der Erfindung des Schreibcomputers freilich eh das Material zu fehlen beginnt, ratlos gegenübersteht, weil er selbst ­Artefakte nur als fertige anerkennt, mag hier einen Kronzeugen sehen, vielleicht um so mehr, als »En agosto nos vemos« aus der fünften Rohfassung und einer »digitalen Version, die noch Fragmente anderer Alternativen sowie Szenen, die der Autor früher einmal erwogen hatte, einschloss«, kollationiert ist. »Meine Arbeit bei dieser Ausgabe war die eines Restaurators an der Leinwand eines großen Meisters«, fährt Lektor Pera fort. Er habe »jeden Satz, jedes Wort, das getilgt oder verändert wurde, hin und her gewendet, jede Variante am Rand erwogen«, und das ist das, was ein Lektor tun sollte; den stilbildenden Großlakoniker Raymond Carver hat, man erinnert sich, sein Lektor Gordon Lish geradezu erfunden. Wahr bleibt aber, dass der Autor seinen Roman, so wie er jetzt vorliegt, nie gesehen hat, und Peras Restaurationsmetapher aufgreifend, fragen wir gern noch mal: Ist das nun ein echter García Márquez, und womöglich sogar einer, der echter ist, als dem Autor lieb sein sollte? Oder ist das, ohne seinen Segen, völlig falsch gefragt?

Freuen über »Wir sehen uns im August« kann sich also auf jeden Fall das Literaturseminar, und literatursoziologisch aufschlussreich ist, dass der Tod des Dichters 2014, wie man in »Abschied von Gabo und Mercedes« nicht ohne Rührung liest, ein kontinentales Ereignis war und die Präsidenten Kolumbiens (da war er geboren) und Mexikos (da lebte er zuletzt) an »Gabos« Sterbebett standen: Literatur als Identitätsstifter, das ist hier keine Phrase aus dem feuilletonistischen Setzkasten. Zu García Márquez’ Lebzeiten, erinnert sich der Sohn, hätten Kellner, kaum hatten sie den Vater erkannt, hektisch nach Büchern zum Signieren telefoniert, und die Zeiten dürften auch in ­Lateinamerika vorbei sein. Wann es sie in Deutschland zuletzt gab? Gab es sie je? Da muss schon Beckenbauer sterben, denn »Kaiser Franz« ist hierzulande garantiert nicht Kafka. Da kann das Feuilleton jodeln, wie es will.

Gabriel García Márquez: Wir sehen uns im August. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024, 144 Seiten, 23 Euro

Rodrigo García: Abschied von Gabo und Mercedes. Erinnerungen an meinen Vater Gabriel García Márquez. Aus dem Englischen von Elke Link. Kiepenheuer & Witsch, 2024, 176 Seiten, 22 Euro

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