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Aus: Ausgabe vom 06.04.2024, Seite 7 / Ausland
Karibik

Hunderttausende Haitianer auf der Flucht

Organisationen prangern dramatische Lage und rassistische Abschiebepolitik von Nachbarstaat an
Von Volker Hermsdorf
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Angriff auf den Nationalpalast in Port-au-Prince am Dienstag

In Haiti droht eine humanitäre ­Katastrophe. Die Bevölkerung der Hauptstadt Port-au-Prince leidet unter einer Lähmung der Infrastruktur. Krankenhäuser werden geplündert, der Mangel an Lebensmitteln, Wasser und Medikamenten ist dramatisch. Während die Internationale Organisation für Migration (IOM) der Vereinten Nationen Alarm schlägt, dass das Land mit der Versorgung von mehr als 116.000 Binnenflüchtlingen aus der Hauptstadtregion überfordert sei, schieben Nachbarländer immer mehr Geflüchtete ab und verschärfen damit die Not. Die Regierung hat unterdessen den Ausnahmezustand im westlichen Teil des Landes einschließlich der Hauptstadt bis zum 3. Mai verlängert, nachdem am Montag ein Angriff bewaffneter Gruppen auf den Nationalpalast gescheitert war.

Allein im März wurden nach Angaben der IOM vom Donnerstag rund 13.000 Haitianer von den Nachbarländern deportiert, 46 Prozent mehr als im Vormonat. Der Sender Telesur, demzufolge mittlerweile mehr als 360.000 Menschen vor Gewalt und Hunger auf der Flucht sind, meldete am Freitag, dass sich die Krise weit über die Hauptstadt hinaus ausbreite. Viele Menschen lebten unter erbärmlichen Bedingungen in Notunterkünften, wo Nahrungsmittel, medizinische Versorgung, Wasser, psychologische Unterstützung und Hygieneeinrichtungen fehlten. Nach Angaben des UN-Kinderhilfswerks UNICEF haben drei von vier Frauen im Großraum Port-au-Prince keinen Zugang zu öffentlichen Gesundheitseinrichtungen. Diejenigen, die sich für die Flucht in ein anderes Land entscheiden, erwarte zudem ein ungewisses Schicksal.

Wie zur Bestätigung warf Amnesty International der ökonomisch deutlich besser aufgestellten Dominikanischen Republik, die sich mit Haiti die Insel Hispaniola teilt, am Dienstag Menschenrechtsverletzungen und eine rassistische Migrationspolitik vor. In einem offenen Brief an den dominikanischen Präsidenten Luis Abinader erklärten Amnesty und sechs weiteren Organisationen, dass Zwangsrückführungen das Leben und die Rechte der Betroffenen gefährden. »Die Regierung hat selbst berichtet, dass sie im Jahr 2023 mehr als 250.000 Haitianer abgeschoben hat, darunter auch Menschen, die internationalen Schutz benötigen«, kritisierte die Amnesty-Direktorin für Nord- und Südamerika, Ana Piquer. Die dominikanische Tageszeitung Diario Libre meldete am Mittwoch, dass im ersten Quartal dieses Jahres weitere 28.304 Haitianer deportiert wurden. Die über Jahrhunderte gewachsene Ungleichheit der beiden Nachbarn wurzelt in der kolonialen Vergangenheit: So wirkt sich die von Frankreich installierte Sklavenhalterwirtschaft auf der westlichen Seite Hispaniolas noch heute aus.

Die internationale Hilfe fällt demgegenüber bescheiden aus. Wie UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths am Donnerstag mitteilte, werden vorerst nur zwölf Millionen US-Dollar aus dem zentralen Nothilfefonds für die Vertriebenen bereitgestellt. Die UNO habe beschlossen, zunächst dieses Geld zu gewähren, da der Plan für humanitäre Hilfe nur zu 6,6 Prozent finanziert sei. Statt der beantragten 674 Millionen US-Dollar habe man nur 45 Millionen erhalten. Mangelnde Hilfe und gleichzeitige Abschiebungen aus anderen Ländern ergeben eine explosive Mischung.

Das nutzen diejenigen aus, die eine direkte US-Invasion befürworten, vor der US-Präsident Joseph Biden aus Furcht vor einer Ablehnung durch die haitianische Diaspora bei den Wahlen im November offenbar noch zurückschreckt. So erklärte der ehemalige US-Botschafter in Haiti, James B. Foley, dass US-Truppen in dem Karibikstaat »eingreifen müssen«, wie sie es vor 20 Jahren getan hätten, als sie den gewählten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide von der Macht entfernten, um – so Foley – »Schlimmeres« zu vermeiden. Angesichts der zahlreichen Probleme, mit denen die USA weltweit konfrontiert sind, sei »der Regierung Biden eine militärische Intervention in Haiti verständlicherweise zuwider, aber die Lage hat sich so weit verschlechtert, dass Washington keine andere Wahl hat, als eine verkürzte Operation durchzuführen, um die Banden zu verdrängen und einen politischen Übergang zu erleichtern«, schrieb der am Sturz der Regierung von Aristide im Jahr 2004 maßgeblich beteiligte Exdiplomat am Dienstag in der Washington Post.

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