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Aus: Ausgabe vom 02.04.2024, Seite 15 / Natur & Wissenschaft
Geochronologie

Das Anthropozän ist abgesagt

Geologen entscheiden sich gegen das »Zeitalter des Menschen« als neue Erdepoche
Von Daniel Bratanovic
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Globaler Fingerabdruck. Der Fallout von Atombombentests wie hier auf dem Bikini-Atoll 1946 findet sich überall

Den Planeten Erde bewohnt eine Art, die Antlitz, Zustand und Bewegungsabläufe eben dieses Planeten in einem Maße zugerichtet hat, dass nach ihr ein ganzes Zeitalter benannt werden sollte. Die Eingriffe der Spezies Homo Sapiens sind zunächst unmittelbar erfahrbar: Die Oberfläche ist überbaut mit riesigen Städten, Hunderttausende Kilometer Tunnel unterhöhlen den Untergrund, eine ganze Schicht aus Weltraumschrott schwirrt im Orbit umher. Die Veränderungen sind auch eindeutig zu ermessen: am Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre, an Zement, Plastik und synthetischen Chemikalien in Böden, Wasser und Luft in einer Größenordnung von Millionen und Milliarden Tonnen oder daran, dass andere Arten aussterben oder als »invasive« durch Menschenhand auf neuen Kontinenten auftauchen. Das Gewicht der Technosphäre, also der Gesamtheit der menschengemachten Strukturen, übertrifft inzwischen das der Biomasse des Planeten, Technofossilien finden sich an den entlegensten Orten.

Nahe lag daher, eine neue geochronologische Epoche auszurufen, ein Zeitalter, das den Menschen als wichtigsten Einflussfaktor auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse der Erde benennt: das Anthropozän. Die offizielle Anerkennung schien nach Jahren der Diskussion und der vor allem geologischen Beweisführung bloß noch Formsache zu sein. Eine 2009 zu diesem Zweck von der International Union of Geological Sciences (IUGS) eingerichtete Arbeitsgruppe, die Anthropocene Working Group (AWG), kam Ende 2023 zu dem Schluss, es gebe genügend geologisch-stratigraphische Anhaltspunkte, das seit dem Ende der letzten Eiszeit vor rund 12.000 Jahren herrschende Holozän für beendet zu erklären.

Den Beginn des Anthropozäns datierten die Geowissenschaftler auf einen Zeitpunkt um das Jahr 1950. Und auch auf einen Referenzort hatte sich die Arbeitsgruppe verständigen können. Die Wahl fiel aufgrund seiner geomorphologischen Beschaffenheit auf den kleinen Crawford Lake in Ontario, Kanada, unweit von Toronto gelegen. In dem kleinen, aber tiefen See durchmischt sich das Wasser kaum, was zur Folge hat, dass sich an seinem Grunde besonders klare, ungestörte Sedimentstrukturen finden. Wie an Jahresringen eines Baumes lassen sich an diesen Schichtabfolgen die menschlichen Eingriffe in die Natur ablesen. Ein entsprechender Bohrkern funktioniert daher wie ein Umweltarchiv. Am Bohrkern aus dem Crawford Lake zeigten sich dabei deutliche Ablagerungen radioaktiver Elemente wie Plutonium, das in der Natur ansonsten nur in minimalen Spuren vorkommt – ein Ergebnis des radioaktiven Fallouts der Atombombentests der 1950er Jahre. »Die Präsenz des Plutoniums liefert uns einen eindrücklichen Indikator dafür, wann die Menschheit eine so dominante Kraft wurde, dass sie einen einzigartigen globalen Fingerabdruck auf unserem Planeten hinterlassen hat«, erklärte Andrew Cundy von der AWG im Juli 2023.

Die Sache schien also klar: Das Anthropozän hat um 1950 begonnen. Wer wollte daran noch zweifeln? Es war nun aber ausgerechnet die IUGS, mithin jene Institution, die erst den Auftrag erteilt hatte, nach Beweisen für die neue Erdepoche zu suchen, beziehungsweise die ihr untergeordnete International Commission on Stratigraphy, die insbesondere für die Gliederung der Erdgeschichte in Äonen, Ären und Epochen zuständig ist, die im März eine Absage aussprach. Aus Sicht einer deutlichen Mehrheit der Gutachter sprachen vor allem drei Gründe dagegen, das Anthropozän in den Rang eines geologisch-stratigraphischen Zeitalters zu erheben. Erstens seien die »menschlichen Auswirkungen auf globale Systeme räumlich und zeitlich variabel«, daher könne »ihr Beginn nicht adäquat durch einen Punkt in der Zeit und einen isochronen Horizont repräsentiert werden«, erklärte die IUGS. Zudem überzeugte zweitens der gewählte Zeitpunkt um 1950 nicht. Warum so spät? Einige Wissenschaftler argumentieren, der menschliche Einfluss habe sehr viel früher begonnen, nämlich bereits mit der neolithischen Revolution und dem damit einhergehenden drastisch erhöhten Methanausstoß durch Viehzucht und Reisanbau, spätestens aber mit der industriellen Revolution vor etwa einem Vierteljahrtausend. Dagegen wird eingewandt, dass eine neue Erdepoche geochronologisch ablesbar sein muss, etwa durch Ablagerungen von radioaktivem Fallout der Kernwaffentests, wie das beim Bohrkern vom Grunde des Crawford Lake der Fall ist. Drittens jedenfalls sei es zu früh für eine definitive Entscheidung. Mit einer Dauer von bisher bloß wenigen Jahrzehnten wäre das Anthropozän extrem jung, ein Wimpernschlag im Vergleich mit den sonstigen geologischen Zeiträumen.

Gänzlich verwerfen möchte die IUGS das »Zeitalter des Menschen« allerdings nicht: »Das Anthropozän wird zwar nicht als chronostratigraphische Einheit klassifiziert, aber als Ereignis, ähnlich der kambrischen Explosion oder der Great Oxygenation.« Gemeint sind damit das fast gleichzeitige Vorkommen von Vertretern fast aller heutigen Tierstämme im geologisch äußerst kurzen Zeitraum von fünf bis zehn Millionen Jahren zu Beginn des Kambriums vor etwa 541 Millionen Jahren sowie der binnen relativ kurzer Zeit erfolgte Anstieg der Konzentration von molekularem Sauerstoff in flachen Gewässern und in der Atmosphäre vor etwa 2,4 Milliarden Jahren.

Colin Waters, Vorsitzender der AWG, ist mit der Entscheidung trotzdem nicht einverstanden. Es sei zweifelsfrei belegt, erklärte er, dass sich die Erde außerhalb der relativ stabilen Umweltbedingungen des Holozäns befinde. »Die Veränderungen des Erdsystems, die das Anthropozän kennzeichnen, sind insgesamt unumkehrbar – was bedeutet, dass eine Rückkehr zu den stabilen Bedingungen des Holozäns nicht mehr möglich ist«. Man mag da nicht widersprechen, sollte allerdings unter dem Gesichtspunkt einer Kritik der politischen Ökonomie darauf hinweisen, dass »Anthropozän« eine grobe Verallgemeinerung darstellt, wo doch erst die vollständige Entfesselung der intrinsisch rastlosen und unaufhörlichen Bewegung der Kapitalakkumulation zu den bedrohlichen Zuständen geführt hat, die Geologen selbst in Bohrkernen nachweisen können. Es gibt deshalb ein paar wenige Gesellschaftskritiker, die es vorziehen, von »Kapitalo­zän« zu sprechen.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (1. April 2024 um 22:35 Uhr)
    Welche Schabe oder welches Bärtierchen wird es kümmern, dass die Stabilität des Holozäns vorbei ist? Survival of the fittest! Den deinococcus radiodurans (»Conan, the Bacterium«) kümmert auch nur Chlor im Kühlwasser des Kernreaktors. Ohne vermehrt er sich dort gut. Tipp für die Geologen: Möglicherweise ist das Kapitalozän schon vorbei und das Deinococcozän hat begonnen. Also schnell »Alle meine Gänschen« in das Genom vom deinococcus programmieren, dass das Liedchen in aller Ewigkeit erhalten bleibt!
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Detlev R. aus Tshwane, Südafrika (1. April 2024 um 20:12 Uhr)
    Interessanter Artikel! Insbesondere der »rote Schlenker« zum Schluss. (Es gibt deshalb ein paar wenige Gesellschaftskritiker, die es vorziehen, von »Kapitalo­zän« zu sprechen.) Eure Natur-und-Wissenschaft-Seite finde ich (blutiger Laie) gut.