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Aus: Ausgabe vom 02.04.2024, Seite 8 / Ansichten

Aluhut des Tages: Der Spiegel

Von Volker Hermsdorf
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Bitte nicht betreten: Alles begann in der US-Botschaft in Havanna (29.7.2017)

Verschwörungsgläubigen ist es schnurz, wenn Wissenschaftler an ihren Phantasien kratzen. Jüngst wieder zu beobachten, als Forscher des US-amerikanischen National Institute of Health im März die Ergebnisse mehrjähriger Untersuchungen von 86 Patienten mit »Havanna-Syndrom« publizierten, an dem angeblich US-Diplomaten in aller Welt und zuerst in der Botschaft in der kubanischen Hauptstadt (Foto) erkrankt waren: Grund für die Beschwerden seien weder russische Schallwellenattacken noch von Putin abgerichtete Kampfgrillen, sondern Vorerkrankungen oder Umweltfaktoren. Auch US-Geheimdienste erwiesen sich als Spielverderber. Nach Überprüfung von 1.500 Fällen kamen sie ebenfalls zu dem Schluss, dass kein ausländischer Gegner hinter den Vorfällen stecke. Es bleibe ein frustrierendes Rätsel, so die Washington Post.

Über Ostern fand der Frust endlich ein Ende. Das Programm »60 Minutes« des US-Senders CBS meldete, dass doch Russland der mögliche Verursacher sei. Wer auch sonst? Nun ist »60 Minutes« laut dem Medienwissenschaftler Richard Campbell zwar »keine objektive Nachrichtensendung«. Trotzdem blieb die auf ein rechtes Publikum ausgerichtete Sendung nicht lange allein. Am Sonntag sekundierte das rechte argentinische Portal Infobae mit einem ähnlichen Bericht.

Beide Medien gelten aufmerksamen Lesern allerdings als suspekt. Rechtzeitig trat deshalb Der Spiegel jedem Zweifel an Putins Urheberschaft entgegen. Unterstützt von dem in Lettland beheimateten Portal The Insider, enthüllte die Onlineausgabe des Magazins am Montag, was sogar der CIA seit Jahren verborgen blieb. Hinter den Attacken steckt danach eine Spezialeinheit des russischen Geheimdienstes GRU. Sollte sich der Bericht – wie einst die prämierten Artikel des Spiegel-Reporters Claas Relotius – als frei erfunden herausstellen, lässt sich ja immer noch darauf verweisen, dass er am 1. April veröffentlicht wurde.

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  • Leserbrief von Hannes Baum (2. April 2024 um 01:43 Uhr)
    Vielleicht haben die Macher von »60 Minutes«, Infobae und Spiegel ja auch bloß den Münsteraner Tatort »Unter Gärtnern« von vor zwei Wochen für bare Münze genommen. Da wurde auch vom »Havanna-Syndrom« gemunkelt, allerdings verwechselte Rechtsmediziner Börne (bzw. die Drehbuchschreiber) Schall- mit Mikrowellen, jedenfalls wurde albern mit rohen Eiern und Haushaltsmikrowellengeräten experimentiert, um nachzuweisen, dass eine Frau (und zwei Eichhörnchen!) mittels Brutzelkanone hingemeuchelt wurde. Und Überraschung: Sie wurden! Aus einem Eiswagen heraus! Und Spoiler: Die Russen warens! Tja, und wenn man nun beim Tatort-Schauen ein wenig zu tief ins Wodka- oder Whiskeyglas lunscht, dann kann es auch schon mal passieren, dass man den Fernsehkrimi für echte Nachrichten oder gar die Wahrheit hält. Scheint beim Spiegel ja öfter mal vorzukommen.
  • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (1. April 2024 um 22:38 Uhr)
    Was den Wahrheitsgehalt von Berichten deutscher Hauptmedien über Russland anbelangt, ist spätestens seit dem 1. August 1914 immer »erster April«. Dieser ewige deutsche Frühling von Wahrheit begann jedoch viel früher, als die Zarin Katharina II. im Keller des Winterpalastes angeblich Orgien mit Pferden feierte und entsprechende Karikaturen in deutschen Zeitungen erschienen. Damals ging es auch schon um die Krim und Umgebung. Wenn es um die Macht ging, spielte es in der Sudelpropaganda noch nie eine Rolle, ob jemand sehr deutsch-freundlich war wie Putin oder eine aus Deutschland kommende Zarin. Sobald sie in Russland diesen Posten hatten, wurden sie urplötzlich zu Barbaren, welche sich unwürdig der westlichen Zivilisation gegenüber erwiesen. Dies galt allerdings nur dann, wenn unter ihnen Russland stärker wurde als zuvor. Bei anderen Staatschefs, unter denen Russland bzw. die Sowjetunion in Chaos zerfiel (Gorbatschow, Jelzin) wurde auch geflunkert, aber im positiven Sinne. Begeisterte Gorbi-, Gorbi-Rufe hörte man 1989 nur noch in Berlin und London, nie in Moskau. Nachdem Gorbatschow allerdings die Rückkehr der Krim zu Russland begrüßte und die Ausdehnung der NATO in vielen Interviews verurteilt hatte, verschwand er aus den deutschen Hauptmedien. Als der Mann starb, der maßgebend den Anschluss der DDR an die BRD ermöglicht hatte, schickte die deutsche Bundesregierung noch nicht einmal einen offiziellen Vertreter zu seiner Beerdigung. Wann gab es je einen deutsch-freundlicheren russischen oder sowjetischen Staatschef als Gorbatschow? Wie nachgiebig muss man in Russland noch sein, was muss man noch tun? Der Mohr hatte seine Schuldigkeit getan, obwohl mir sofort Zweifel kommen, ob ich dieses Zitat im woken Deutschland noch verwenden darf. Da hört der Spaß dann auf. Man weiß schließlich, was sich gehört.
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (2. April 2024 um 14:52 Uhr)
      Herr Buttkewitz, schreiben wir doch den Schiller (im Zweifel auch andere Autoren) um! Zum Beispiel statt »Mohr« »Eurasier« oder »Ork«. Russland wird nämlich inzwischen nicht mehr zu Europa gezählt. In den fact books der CIA firmiert Russland unter »Central Asia«, in »RENEWABLE CAPACITY STATISTICS 2024« der IRENA unter »EURASIA«, immerhin zusammen mit Armenia, Azerbaijan, Georgia und Türkiye. Für Herrn Habeck endete Europa schon 2021 spätestens am Don.

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