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Aus: Ausgabe vom 02.04.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Staatsfeind Fußballfan

Double Trouble für Ultras

Schweiz: Aktive Fanszene in Luzern im Clinch mit St. Galler Kurvenkonkurrenz – und mehr noch mit der Sicherheitsdirektorin der Kantonsregierung
Von Oliver Rast
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Das Luzerner Fanaktiv ist wütend, protestiert gegen den Repressionsplan von Justiz und Polizei (17.3.2024)

Es ist spürbar, Stunk liegt in der Luft. Am Bundesplatz im Luzerner Stadtzentrum, Samstag abend, 20. Mai 2023. Fans vom FC St. Gallen (FCSG) sind gerade auf dem Rückweg vom Stadion zum Bahnhof. Ihr Team gastierte beim Ligakonkurrenten FC Luzern (FCL). Die Partie in der erstklassigen Super League endete remis 1:1. Schluss ist dennoch nicht. Die »dritte Halbzeit« steht an – abseits der Arena.

Der Auswärtsmob ist bereits in Sicht- und Hörweite, vielleicht zwei-, dreihundert Personen. Heimische Anhänger haben sich mittlerweile vor ihrem Fanlokal »Zone 5« versammelt, gleichfalls einige hundert. Ein neuralgischer Punkt. Supporter des Gegners passieren die Lokalität. Ausweichrouten zum Bahnhof hätten sich als verkehrstechnisch nicht machbar erwiesen, wiegeln Behördenvertreter ab. Seit Jahren.

Rivalität mit Tradition

Die Rivalen sind nun auf Schlagdistanz, Schmähgesänge werden lauter. Und dann: St. Galler aus den vorderen Reihen des Corteos schießen Leuchtspurmunition in die Menge vor der »Zone 5«. Die sprengt förmlich auseinander, Menschen schützen sich vor dem Feuerschweif der Pyros. Ein, zwei Dutzend Uniformierte versuchen, die Lager zu trennen. Im Anschlag: sogenannte Mehrzweckwerfer. Tränengas und Gummischrot lassen sich damit verschießen. Eine eidgenössische Spezialität gegen »Unruhestifter«; nicht nur, aber auch aus den »rebellischen Kurven«.

Anwohner dokumentieren aus sicherer Entfernung das weitere Scharmützel. Verwackelte, unscharfe I-Phone-Mitschnitte, die später in sozialen Netzwerken kursieren. Flaschen, Steine, Böller fliegen; mal gezielt, mal nicht. Die Situation ist unübersichtlich, dazu ein akustisches Wirrwarr. Aus einer Seitenstraße fährt ein himmelblauer Wasserwerfer zur Platzmitte. Im Schrittempo. Die Besatzung justiert die dreh- und schwenkbaren Dachwerfer – und: volles Rohr! Fontänen peitschen über das Areal. Rauchschwaden wabern über den Asphalt, ein qualmiger, toxischer Mix aus Reizgas und Bengalos. Polizeikräfte verballern unterdessen ihre sechseckigen, zehn Gramm schweren Hartgummiprojektile, im Paket zu 35 Stück. Erst nach Mitternacht hat sich das Stadtleben am Vierwaldstättersee wieder normalisiert. Die Gästefans waren da schon mit dem Sonderzug auf der Heimreise.

Nachspiel des Nachspiels am Tag danach: Aufräumarbeiten am Bundesplatz, Medienanalysen der Vorfälle. Solcherlei Ausschreitungen habe Luzern zuvor so noch nie erlebt, meinte der Moderator von »Schweiz aktuell« vom Schweizer Radio und Fernsehen (SRF). Kantonspolitiker, Behördenchefs, Vereinsverantwortliche verurteilten die »Gewaltexzesse«. Allesamt. Besonders forsch trat die christdemokratisch-konservative Partei »Die Mitte« auf. Mit der kantonalen Volksinitiative »Gegen Fangewalt: Hooligans stoppen!«. Die Bevölkerung sei nicht mehr bereit, »das Chaotentum rund um Fußballspiele zu akzeptieren«. Ergebnis folgt, das aufrührerische Aufbegehren aus der »Mitte der Stadtbevölkerung« endet im Juni.

FCL-Fans clinchen mit FCSG-Fans – und umgekehrt. Warum? Eine »Rivalität mit Tradition«, sagen Beobachter. Bloß, wo die herkommt, weshalb sie sich fortsetzt: unklar. Die Klubs würden sich sehr ähneln; großes Einzugsgebiet, volle Stadien, euphorisches Publikum. »Gleich und gleich bekriegt sich gern«, hatte vor zwei Dekaden ein Schreiber eines FCL-Fanzines gemutmaßt. So richtig überzeugend klingt das nicht. Anyway; der Wetteifer neben dem Platz ist längst in der Kabine der Kicker angekommen. Alle wissen um die »Brisanz des Spiels«: Es ist ein Regionalduell, Innerschweiz gegen Ostschweiz.

Kollektivstrafenkatalog

Eine will indes nicht rat- und tatenlos zuschauen: Ylfete Fanaj. Die im vergangenen Mai in die Luzerner Regierung gewählte Justiz- und Sicherheitsdirektorin reaktivierte zunächst den »Runden Tisch Fußball«. Alle Beteiligten sind involviert; Fangruppen, Verkehrsbetriebe, Unternehmen, Polizei, Stadt, Kanton und nicht zuletzt der FC Luzern. »Damit will ich die Akteure in die Verantwortung nehmen«, betonte die Sozialdemokratin. Ferner sei die »Kluballianz« auszubauen. Für den Dialog, also Vor- und Nachbesprechung der Heimspiele. Etwa zu Einlasskontrollen im Stadion, zur An- und Abreise von Gästefans, zur Einzeltäterverfolgung bei Verstößen. Ziel seien mehr Verhaftungen, meinte Fanaj markig. Und sie will mit der Vereinsspitze die Sicherheitskosten für Spieltage neu verhandeln. Eine neun Jahre alte Übereinkunft mit dem FCL läuft Ende des Jahres aus. Aber bereits jetzt trägt der Verein 80 Prozent der Kosten bei Auftritten zu Hause.

Kurzum, alles müsse optimiert werden, so Fanaj. Das sei der »Luzerner Weg«, um gewaltfreie Matches durchzusetzen. Reicht das nicht, müssten Kollektivstrafen her. Behörden, Klubs und Verband hatten dafür eigens ein sogenanntes Kaskadenmodell kreiert. Die Kernidee: »Fehlverhalten« von Fans in oder vor Arenen haben Konsequenzen, gestaffelt nach Vergehen und Häufigkeit (siehe Keller). Bis hin zu Sektorsperren oder »Geisterspielen« im Stadion.

Planspiele, für die Fanaj Kontra bekam. Der Kurvenzusammenschluss »Unabhängige Szene Luzern« (USL) erklärte Anfang März: Die neue Regierungsrätin habe ihre »faire Chance« zur Deeskalation vertan. Nun sei die Maske gefallen, mit Befürwortern von kollektiven Sanktionen gebe es keinen Dialog. Die USL verließ den Runden Tisch – »per sofort«.

Wie weiter? Fest steht: Stunk liegt in der Luft. Abermals. Weniger unter rivalisierenden Fans, vielmehr mit der Staatsmacht. Schweizweit. Ultras schmückten demonstrativ ihre Blöcke mit meterlangen Bannern, auch die Luzerner: »Uf Kollektivstrofe folged kollektivi Antworte.«

Hintergrund: GSLS-Reporting

Aktive Fanszenen sind im Visier. Auch in der Schweiz. Beinahe jede ihrer Bewegungen in und vor den Arenen wird dokumentiert. Spieltag für Spieltag. Die Sammelwut obliegt dem Bundesamt für Polizei, kurz Fedpol. Speziell den Beamten der Polizeilichen Koordinationsplattform Sport (PKPS). Alles scheint interessant, alles »zur Sicherheit und zu gewalttätigen Ereignissen rund um sämtliche Spiele der beiden obersten Fußballigen«, steht auf der Fedpol-Homepage. Die manischen Behördenstatistiker tragen Auskünfte zusammen, die ihnen Informationsbeschaffer, etwa lokale Polizeien, Klubs, Verbände, aber auch die Schweizerischen Bundesbahnen liefern. Ergebnis ist das Gesamtschweizerische Lagebild Sport, das GSLS-Reporting. Einmal jährlich, bereits seit 2018.

Für den Report gibt es ein Bewertungssystem, nach Kategorien in Ampelfarben unterteilt: Grün, Gelb und Rot. Dieses Vorgehen stelle sicher, »dass Spiele nicht pauschal, sondern spezifisch auf die im Einzelfall vorliegenden Ereignisse hin bewertet werden.«

Demnach: Grün ist, wenn vor, während und nach dem Kick nichts oder wenig vorfällt. Was kann das sein? Beispiel: »Auf dem Weg zum Stadion plazieren Gästefans Sticker auf Verkehrsschildern.« Oha. Werden agile Anhänger hingegen gewalttätig, schaltet die Ampel auf Gelb. Beispielsweise dann: Reisekader eines Klubs zerstören Teile des Interieurs eines Sonderzugs. Ferner zünden sie während des Fanmarsches Pyrotechnik. Richtig »rot« sieht die Staatsmacht im Falle »gewalttätiger Ereignisse mit besonderer Schwere«. Also, Ultras zoffen sich vor der Partie, die Polizei setzt Tränengas ein. Nach dem Anpfiff geht es im Stadion pyronal lichterloh weiter, und auf der Heimreise randalieren »Kurvenrebellen« in den Waggons »massiv«.

Was soll das alles? Das GSLS-Reporting sei faktenbasiert, sagen die Statistikmacher – und Erkenntnisbasis »für sachlich fundierte und zielorientierte Maßnahmen« (gegen aktive Fans). (or)

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