junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Sa. / So., 27. / 28. April 2024, Nr. 99
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Ausgabe vom 27.03.2024, Seite 11 / Feuilleton
Comic

Erst lachen, dann heulen

Eher brav: Der Band »Wir haben die Wahl« versammelt internationale Cartoons zu Demokratie und Rechtsstaat
Von Marc Hieronimus
Unbenannt-1.jpg
Zur Kenntlichkeit entstellt: Cartoon von Dorthe Landschulz

Eine Karikatur muss wie ein Schlag auf die Schnauze sein, hat François Cavanna gesagt, der legendäre Gründer von Hara-Kiri (später Charlie Hebdo). Die Kennerin denkt da an den Zeichner Roland Topor und seine Faust in einem wie zu einem schlappen Fußball deformierten Gesicht. Auf den in den 1960ern oft geäußerten Vorwurf, die Zeichnungen von Reiser, Cabu, Siné usw. seien geschmacklos, erwiderten Cavanna und sein Geschäftspartner »Professor Choron«, die Wirklichkeit sei geschmacklos, nicht die Karikatur. Über die Zustände in der Welt müsse man heulen – aber erst, nachdem man über sie gelacht hat.

Nun ist der krasse Humor der Franzosen nicht jedermanns Sache. Wie der Humorist und Charlie-Sympathisant Pierre Desproges gesagt hat: Man kann über alles lachen, aber nicht mit jedem, zumal nicht mit jedem Deutschen. Das ist ablesbar an jeder Witz- und Karikaturensammlung, besonders wenn sie so gutgemeint ist wie »Wir haben die Wahl«.

In einem Cartoon von Katharina Greve (u. a. ND und Titanic) ziehen drei übellaunige Erwachsene und ein Kind durch die Straßen. Der Kleine: »Mutti, was machen wir eigentlich montags, wenn die Coronalüge mal vorbei ist?« Die Mutter, um den Hals ein Schild mit einer durchgestrichenen Spritze: »Keine Sorge, dann gibt es bestimmt wieder Flüchtlinge, die unsere Demokratie bedrohen.« Klar, wer sich keine genmanipulierten Viren spritzen will und sich gegen die Abschaffung der Versammlungsfreiheit und der Unverletzlichkeit der Wohnung zur Wehr setzt, ist zwangsläufig auch gegen Geflüchtete. Hier wird nicht die Staatsmacht karikiert, sondern die Auflehnung gegen sie.

Lustiger Til Mette (Stern). Der hat angesichts des wachsenden Antisemitismus einen Cartoon gezeichnet, in dem ein Paar und ein weiblicher Gast im kleinbürgerlichen Wohnzimmer beim Wein sitzen, der Mann sagt: »Um uns später keine Vorwürfe machen zu müssen, haben wir schon mal einen Juden im Keller versteckt.« Man lacht über den Biedermann, der alles richtig machen will, obwohl es für die Juden in Deutschland so gefährlich dann doch noch nicht wieder ist.

In einer Karikaturensammlung zu »Demokratie und Rechtsstaat«, herausgegeben von Christian Langer, die Gefährdung einer Minderheit durch den rechten Mob zu thematisieren, ist dabei freilich leicht am Thema vorbei. Auf der anderen Buchseite wieder Til, wieder Antisemitismus: Eine Synagoge ist mit Hakenkreuzen beschmiert, an der Eingangstür Brandspuren und Reste eines Brandsatzes. Ein Reporter spricht in die Kamera: »Die Polizei schließt antisemitische Motive bei diesem Anschlag nicht völlig aus.« Das persifliert den Reflex der Behörden, die Gefahr des Rechtsradikalismus herunterzuspielen, trifft es aber wieder nicht ganz, denn Nazisymbole erregen durchaus erhebliches Aufsehen. Wenn man bedenkt, wie in den letzten Jahren und besonders seit dem 7. Oktober 2023 Demonstrationen verboten, Wissenschaftler entlassen, Künstlern Auftrittsmöglichkeiten genommen, wie also Demokratie und Rechtsstaat unter dem Vorwand des Kampfes gegen Antisemitismus eingeschränkt werden, auch wenn die vermeintlichen Judenhasser sich nur für Frieden und Aussöhnung einsetzen, wird man einsehen, dass der Künstler es sich auch hier leicht gemacht hat. Stern-Leser zum Lachen über den Nahostkonflikt zu bringen, wäre eine ganz andere Liga.

Auch international sind die ausgewählten Karikaturen sehr brav. Diktatoren sind böse, Wahlen werden manipuliert, Donald Trump ist dumm, und all das ist bedauerlich. Einziger Lichtblick ist die Französin Camille Besse, nicht zufällig bei der Nach-Anschlags-Charlie untergekommen. Im Cartoon Abzug aus Afghanistan steht ein bärtiger Taliban vor einem Stapel Munitions- und Waffenkisten und ruft seinen Kameraden zu: »Hey Jungs, das müsst ihr sehen! Sie haben uns einen Riesenvorrat an Demokratie dagelassen!« Soll heißen, von der schönen Demokratie sind nur die leider notwendigen Waffen geblieben? Naheliegender ist die Lesart, dass der amerikanische Kampf für »Demokratie« immer schon Vorwand war und vor allem Krieg bedeutete. Und, haben wir die Wahl? Selbstverständlich, wir leben in einer Demokratie! Aber die Wahl wozwischen?

Christian Langer (Hrsg.): Wir haben die Wahl. Lappan-Verlag, Hamburg 2024, 128 Seiten, 18 Euro

2 Wochen kostenlos testen

Die Grenzen in Europa wurden bereits 1999 durch militärische Gewalt verschoben. Heute wie damals berichtet die Tageszeitung junge Welt über Aufrüstung und mediales Kriegsgetrommel. Kriegstüchtigkeit wird zur neuen Normalität erklärt. Nicht mit uns!

Informieren Sie sich durch die junge Welt: Testen Sie für zwei Wochen die gedruckte Zeitung. Sie bekommen sie kostenlos in Ihren Briefkasten. Das Angebot endet automatisch und muss nicht abbestellt werden.

Mehr aus: Feuilleton