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Aus: Ausgabe vom 25.03.2024, Seite 12 / Thema
Mittlerer Osten

Gemeinsam gegen die PKK

Die Türkei baut ihren Einfluss im Nordirak aus. Dahinter stehen auch ökonomische Absichten
Von Tim Krüger
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Der türkische Außenminister Hakan Fidan (l.) beim Handschlag mit dem irakischen Außenminister Fuad Hussein (Bagdad, 22.8.2023)

Nach den jüngsten Gesprächen zwischen der türkischen und der irakischen Regierung scheint eine neue türkische Militäroffensive im Nordirak unmittelbar bevorzustehen. Der türkische Präsident Erdoğan hatte bereits am 4. März in einer Sitzung mit seinem Kabinett die geplante Ausweitung der türkischen Militäroperationen im Nordirak eröffnet. »Mit Gottes Segen«, so Erdoğan, »werden wir in diesem Sommer auch die Frage unserer Grenzen zum Irak endgültig lösen«. Ziel der militärischen Anstrengungen sei es, einen 30 bis 40 Kilometer in den Irak hineinreichenden »Sicherheitskorridor« entlang der Grenze zu errichten. Zusammen mit den schon besetzten und den nach türkischen Plänen noch zu erobernden Gebieten Nordsyriens, soll so eine zusammenhängende Pufferzone entstehen, die das türkische Staatsgebiet vor einem Einsickern kurdischer Guerillaverbände schützen soll. Die schwer zugänglichen Bergregionen im Dreiländereck Iran-Irak-Türkei dienen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) als Rückzugsgebiete und werden weitgehend von ihren bewaffneten Verbänden, den »Volksverteidigungskräften« (HPG), kontrolliert.

Obwohl die türkischen Streitkräfte seit 2018 immer wieder weit in das Territorium ihres Nachbarlandes vorgestoßen sind, kann nicht davon gesprochen werden, dass es der türkischen Armee gelungen wäre, die Verbände der PKK aus der Region zu drängen. Ganz im Gegenteil – den kurdischen Partisanen gelingen immer wieder teils verheerende Schläge gegen türkische Stützpunkte. Erst im Januar forderte eine Reihe von Guerillaoperationen das Leben zahlreicher türkischer Soldaten. Die immer wiederkehrenden hohen Verluste, die in der türkischen Öffentlichkeit vor allem auf ein Versagen der militärischen Führung zurückgeführt wurden, setzen Präsident Erdoğan auch zusehends innenpolitisch unter Druck. Seit Jahren hält der türkische Autokrat seine eigene Anhängerschaft, aber auch die breite nationalistisch-islamistische Öffentlichkeit in der Türkei mit Prophezeiungen eines baldigen Sieges über die kurdische Freiheitsbewegung bei der Stange. Dabei ähneln sich die Erklärungen der vergangenen neun Kriegsjahre seit dem Ende der Friedensverhandlungen zwischen dem inhaftierten Vorsitzenden der PKK Abdullah Öcalan und der türkischen Regierung 2015 auf verblüffende Art und Weise.

Der Tenor der oft wortgewaltig ausgeschmückten Erklärungen von Präsident Erdoğan und seinen Parteigenossen ist dabei immer derselbe: Die PKK sei geschwächt, geschlagen, liege in den letzten Zügen, und der ruhmreiche Sieg der türkischen Armee sei nur noch eine Frage der Zeit. Erdoğans Ankündigung einer Ausweitung der türkischen Besatzung im Nordirak ist vor diesem Hintergrund zwar keine Neuheit, doch das Regime steht wie niemals zuvor unter massivem Zugzwang. Dabei drängt jedoch nicht vorrangig die Furcht vor einem möglichen Umschwenken der öffentlichen Meinung die türkische Regierung dazu, schnell Ergebnisse vorweisen zu wollen. Vor allem langfristige ökonomische und geopolitische Überlegungen bestimmen den Kurs der türkischen Expansionspolitik in der Region. Auch die neuerdings ungewohnt engen Beziehungen zwischen der Türkischen Republik und dem Irak erhalten erst vor dem Hintergrund der weitreichenden wirtschaftlichen Kooperation der beiden Länder und der regionalen Verschiebungen in der Machttektonik des Mittleren Ostens ihre wirkliche Bedeutung.

Gespräche in Bagdad

Nachdem eine türkische Delegation unter Führung von Außenminister Hakan Fidan und Geheimdienstchef İbrahim Kalın am 14. März für bilaterale Gesprächen in Bagdad zu Gast gewesen war, wendeten sich die Vertreter beider Staaten in einer gemeinsamen Erklärung an die Öffentlichkeit. Das Dokument, das auf den Seiten der jeweiligen Außenministerien zugänglich ist, benennt die PKK als »Sicherheitsbedrohung sowohl für die Türkei als auch für den Irak« und stellt die Einrichtung »gemeinsamer Ausschüsse (…) in den Bereichen Terrorismusbekämpfung, Handel, Landwirtschaft, Energie, Wasser, Gesundheit und Verkehr« in Aussicht. In der türkischen Öffentlichkeit wurde die Erklärung als ein Meilenstein auf dem Weg zu einem bilateralen Sicherheitsabkommen zwischen dem Irak und der Türkei gefeiert. Hakan Fidans Chefberater Nuh Yilmaz bezeichnete die erzielte Einigung als Wendepunkt in den Beziehungen beider Länder und erklärte, dass die Türkei und der Irak »zum ersten Mal entschieden« hätten, »gemeinsam gegen den PKK-Terrorismus zu kämpfen«.

Der Nationale Sicherheitsrat des Iraks verabschiedete parallel zu den Verhandlungen einen Beschluss, in dem die PKK erstmalig als »verbotene Organisation« bezeichnet wurde. Auch in der offiziellen Stellungnahme heißt es, beide Parteien hätten Maßnahmen erörtert, »die gegen die Organisation und ihre Ableger, die von irakischem Territorium aus auf die Türkei abzielen, zu ergreifen sind«. Tatsächlich waren schon in den Wochen vor dem Treffen in Bagdad außergewöhnliche Truppenbewegungen im Nordirak gemeldet worden. So erklärte die Pressestelle der kurdischen Volksverteidigungskräfte HPG am 26. Februar, dass »Truppen, bei denen es sich vorgeblich um Grenzschutzeinheiten der irakischen Streitkräfte handelt, in Teilen von Zap und Avaşîn eingetroffen« seien. Die Guerillaverbände warnten die irakische Armee vor vorschnellen Schritten und wiesen darauf hin, dass die bezogenen Positionen innerhalb der »Medya-Verteidigungsgebiete«, wie die kurdische Guerilla ihre Stützpunktgebiete im Nordirak nennt, liegen und sich die Grenzschutzeinheiten »kilometerweit (…) jenseits der irakisch-türkischen Staatsgrenzen« befänden. Die erhöhte Präsenz der irakischen Armee rund um die umkämpften Bergregionen des Nordiraks ließ schon vor dem jüngsten Treffen in Bagdad Befürchtungen über ein mögliches koordiniertes Vorgehen der irakischen und türkischen Streitkräfte lautwerden.

Es ist dabei anzunehmen, dass die Frage einer gemeinsamen Operation oder aber zumindest die politische Unterstützung der irakischen Zentralregierung für eine Ausweitung der türkischen Präsenz im Nordirak bereits bei den dem Treffen vom 14. März vorausgegangenen Zusammenkünften unterschiedlichen Formates thematisiert worden ist. So heißt es in der gemeinsamen Erklärung, dass das hochrangige Treffen, an dem neben den Außenministern auch die Leiter der Nachrichtendienste beider Länder, die Stellvertreter des türkischen Innenministers, der Innenminister der Region Kurdistan Karim Sinjari und der Leiter der Volksmobilisierungskommission teilnahmen, die Fortsetzung der Gespräche darstelle, welche schon am 19. Dezember 2023 in Ankara geführt wurden. Auch Sondierungsgespräche auf unterschiedlichen Ebenen waren dem Sicherheitsgipfel vom 14. März vorausgegangen. Nachdem Hakan Fidan und der Präsident der Region Kurdistan Nêçîrvan Barzanî am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz zu bilateralen Gesprächen über Sicherheitsfragen sowie die Ausweitung des Ölexportes aus der irakischen Region Kurdistan in die Türkei zusammengekommen waren, empfing Fidan am 19. Februar Falih Al-Fayyadh, den Kopf der mit dem Iran verbündeten Volksmobilisierungskräfte, PMU, in Ankara. Dass der Barzanî-Clan, der den größten Teil des südkurdischen Ölhandels mit der Türkei kontrolliert, ein langjähriger Verbündeter der türkischen Regierung im Kampf gegen die PKK ist, ist gemeinhin bekannt, doch das Treffen zwischen Fidan und Al-Fayyadh ließ Beobachter der Region aufmerken.

Noch während der Mossul-Operation 2016/2017 hatte die türkische Regierung gegen eine Beteiligung der PMU an der Schlacht um die nordirakische Großstadt protestiert und die mehrheitlich schiitischen Milizen als »iranische Terroristen« bezeichnet. Präsident Erdoğan drohte damals sogar offen mit einer militärischen Intervention, sollten die Gruppen die mehrheitlich sunnitisch-turkmenische Bevölkerung der Stadt Tel Afar zwischen Mossul und dem strategisch wichtigen Sindschargebirge »terrorisieren«. Auch schiitische Gruppen, die als Teil der Volksmobilisierungskräfte, die sich der iranisch-geführten »Achse des Widerstandes«, eines mehr oder weniger klar abzugrenzenden Bündnisses mehrheitlich schiitischer Organisationen, das sich vom Irak, über Syrien und dem Libanon bis zur jemenistischen Ansarollah-Bewegung erstreckt, zuordnen, haben sich seit 2021 wiederholt zu Raketenangriffen auf türkische Militärbasen im Nordirak bekannt. Die Gruppen bezeichneten die türkische Truppenpräsenz im Nordirak als »Invasion« und erklärten die »Besatzungsmacht« zum legitimen Ziel. Die türkische Luftwaffe flog ihrerseits wiederholt Luftangriffe auf Lager der schiitischen Milizionäre. Insbesondere nachdem am 20. Juli 2022 neun irakische Touristen bei einem türkischen Artillerieangriff auf einen Picknickplatz in den südkurdischen Bergen nahe der Stadt Zaxo ums Leben kamen und 22 weitere verletzt wurden, drohte der Konflikt zu eskalieren. Die Opfer des Angriffs kamen mehrheitlich aus dem schiitisch dominierten Regionen im Süden des Iraks.

Auch die irakische Zentralregierung verurteilte den Angriff aufs schärfste und sprach von einer eklatanten Verletzung der irakischen Souveränität. Als am 18. September 2023 bei einem türkischen Luftangriff auf einen Flughafen in der südkurdischen Metropole Suleymania drei Mitglieder der Antiterroreinheit Lexoman-Parastin der im südlichen Teil der Kurdistan Region regierenden Patriotischen Union Kurdistans getötet wurden, bestellte der irakische Präsident Abdul Latif Raschid den türkischen Botschafter ein und ließ eine Protestnote überreichen. Die irakische Regierung hatte in den vergangenen Jahren die türkischen Alleingänge im Nordirak wiederholt und in teilweise scharfem Tonfall als Völkerrechtsbrüche verurteilt und die Türkei zu einer Einstellung der Angriffe aufgefordert. Die Erklärung vom 14. März und vor allem die Einstufung der PKK als »verbotene Organisation« könnte allerdings einen entscheidenden Wandel in der irakischen Haltung zu Ankaras Operationen ankündigen.

Alternative zum Suezkanal

Dabei nähern sich die beiden Staaten einander schon seit geraumer Zeit. Hintergrund der nunmehr freundschaftlich anmutenden Beziehungen dürfte ein laufendes wirtschaftliches Großprojekt sein. Das im Frühjahr 2023 verkündete »Iraq Development Road Project« soll den im Bau befindlichen Hafen der irakischen Stadt Basra am Persischen Golf über ein umfassend ausgebautes Netz von Straßen und Eisenbahnlinien mit der 1.200 km entfernten türkischen Grenze verbinden. Dabei wird das Projekt vor allem von türkischer Seite als eine Alternative zu der heute mehr als je unsicheren Route durch das Rote Meer und den Suezkanal gepriesen. Nicht umsonst lautete der vorherige Arbeitstitel des Projektes »Trockener Kanal«. Die »irakische Seidenstraße« heißt es bei der türkischen, regimetreuen Nachrichtenagentur Anadolu Ajansı, solle den Irak zukünftig zu einem »Transit-Hub« für den Güterverkehr zwischen Asien und Europa machen. Die erste Stufe des Projektes soll 2028 abgeschlossen und das Schienen- und Straßennetz in zwei Stufen bis 2050 kontinuierlich ausgebaut werden. Die Baumaßnahmen für das ambitionierte 17 Milliarden Dollar schwere Projekt laufen bereits auf Hochtouren. So wird im Golf von Basra kräftig gebaggert. Im Rahmen des »Grand Faw Port«-Projektes, graben Schiffe das Hafenbecken des zukünftig größten Hafens des Mittleren Ostens. Der Irak hatte in der Vergangenheit stets damit zu kämpfen, dass er über keinen eigenen Tiefseehafen verfügt und damit weder in großen Stil Öl und Gas aus heimischer Förderung auf die Weltmärkte leiten noch Anfahrtsstelle für große Containerschiffe sein kann.

Das seit 2010 laufende Großprojekt am Golf von Persien soll 2025 fertiggestellt werden und Abhilfe schaffen. Der Hafen stellt gleichzeitig den Ausgangspunkt der Development Road dar. Diese Route soll nach den türkisch-irakischen Planungen von Basra über die Hauptstadt Bagdad, Tikrit, Mossul und Tel Afar bis zum geplanten Ovaköy-Grenzübergang führen. Dabei sieht die Route auch eine Umgehung der bisherigen Handelsroute durch die Region vor, die unter Kontrolle der kurdischen Regionalregierung im Norden steht. Nach dem gescheiterten Unabhängigkeitsreferendum 2017 schloss die Türkei als Reaktion den Habur-Grenzübergang zur Region Kurdistan im Irak und brachte die Öffnung einer alternativen Route nahe der türkisch-syrischen Grenze weiter westlich ins Spiel. Schon im Jahr 2020 berichtete die kurdische Nachrichtenagentur ANF unter Berufung auf nicht weiter genannte Quellen von einem Abkommen zwischen den USA, Bagdad, Ankara und der kurdischen Regionalregierung in Hewler. Ziel des Abkommens sei es, sowohl den Einfluss der PKK als auch den der mit dem Iran verbündeten schiitischen Milizen im Nordirak zurückzudrängen und damit die Grundlage für die neue Handelsroute zu legen. Dabei deckt sich die angeblich geplante Route nahezu vollständig mit der nun verkündeten Development Road.

Am 9. Oktober 2020 unterzeichneten die irakische Zentralregierung und die von der Barzanî-Familie geführte kurdische Regionalregierung unter Aufsicht der Vereinten Nationen das »Sindschar-Abkommen«, das die Entwaffnung und Auflösung der der PKK nahestehenden Widerstandseinheiten Şengals (Sindschars), einer nach dem Überfall des IS gebildeten jesidischen Selbstverteidigungseinheit, sowie der mit dem Iran verbündeten schiitisch-arabischen Gruppen im Sindschargebirge und der Ebene von Nineve vorsieht.

Schnellerer Güterverkehr

Laut dem der türkischen Regierung nahestehenden Thinktank ORSAM, dem »Zentrum für mittelöstliche Studien«, soll der neue Handelskorridor vor allem auch eine Vorbereitung auf das »Postölzeitalter« sein und dem Irak durch eine Verwandlung in einen Knotenpunkt für den internationalen Güterverkehr auch über die Erschöpfung der fossilen Energiereserven hinaus eine strategische geopolitische Position sichern. Die Development Road soll über das Straßen- und Schienennetz an den »Mittleren Korridor« anschließen und damit laut ORSAM die Zeit für den Güterverkehr zwischen China und Europa um zwischen 20 und 25 Tage verringern. Der »Mittlere Korridor« bezeichnet dabei konkret ein Netz von Verkehrswegen, das unter Umgehung der Russischen Föderation und des Iran über die Türkei als Schnittstelle die Länder und Märkte Asiens, vor allem Chinas, mit Europa verbinden soll. Einen wichtigen Teil, wenn nicht sogar das Herzstück des Mittleren Korridors bildet derzeit der »Südliche Gaskorridor« der mit der Transanatolischen Pipeline über ein weitverzweigtes Netz von der Adria bis über den Kaukasus die europäischen Netze mit den aserbaidschanischen Gasvorkommen verbindet. Sollte es der Türkei und Aserbaidschan gelingen, der armenischen Regierung in den derzeit laufenden Verhandlungen ein Zugeständnis abzuringen und die Öffnung des sogenannten Sangesur-Korridors zu erreichen, wie das Stück armenisches Territorium zwischen Aserbaidschan und seiner autonomen Republik Nachitschewan bezeichnet wird, könnte der Korridor schon bald eine bedeutende Lebensader für den Ost-West-Transfer werden.

Dabei überschneiden sich die türkischen Pläne, durch eine geschickte Ausnutzung der aktuellen globalen politischen Situation und der günstigen geographischen Lage der Türkei die eigene Stellung als einflussreiche Regionalmacht weiter auszubauen, mit den mittelfristigen wirtschaftlichen Interessen der europäischen Mächte. Die großangelegten Infrastrukturprojekte, die in den vergangenen Jahren umgesetzt wurden und der für die kommenden Jahre weiter anstehende Ausbau des Verkehrsnetzes, um die Transportkapazitäten zu erhöhen und den Mittleren Korridor vollständig zu erschließen, werden zu großen Teilen mit Investitionen aus der Europäischen Union finanziert. Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier warb bei seinem sommerlichen Besuch in den zentralasiatischen Republiken Kasachstan und Kirgistan im vergangenen Jahr für den Mittleren Korridor als der entscheidenden Alternative zum »Nördlichen Korridor« durch Russland und Belarus. Im September letzten Jahres lud die Vorsitzende des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft, Cathrina Claas-Muhlhäuser, die Staatschefs Kasachstans, Kirgistans, Usbekistans, Tadschikistans und Turkmenistans zu einem Gipfeltreffen unter Beteiligung von »40 hochrangigen Vertreterinnen und Vertreter(n) deutscher Unternehmen«. Die Vorsitzende des Ostausschusses unterstrich in diesem Zusammenhang noch einmal die wichtige Bedeutung des Mittleren Korridors für die deutsche Wirtschaft und forderte weitere EU-Investitionen.

Die Development Road soll in diesem Gesamtbild als eine weitere Ergänzung zu den nördlicheren Routen durch das Kaspische Meer dienen. Während sich die nördliche Route vor allem für den Transport von Gütern eignet, die im Westen der Volksrepublik China gefertigt werden, soll mit dem Hafen in Basra und seiner Anbindung durch den »Trockenen Kanal« eine Alternative für Gütertransporte aus den Küstenregionen Chinas, Südostasiens und Indiens geschaffen werden. Auch die Golfstaaten könnten direkt an die Transportroute angebunden werden.

Konkurrenzprojekt

Doch das Projekt hat durchaus mit Konkurrenz zu kämpfen. Das größte Problem für die Türkei und den Irak stellt dabei der im September 2023 auf dem G20-Gipfel in Neu-Delhi verkündete India-Middle East-Europe Economic Corridor (IMEC) dar. Das unter Federführung der Vereinigten Arabischen Emirate, Israel und vor allem der USA entwickelte Megaprojekt soll eine Alternative zur chinesischen »Belt and Road«-Initiative, besser bekannt als »Neue Seidenstraße«, sein, bei der auch der Mittlere Korridor eine entscheidende Rolle spielt. Dabei soll der IMEC über Indien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien, Jordanien und Israel ins Mittelmeer nach Griechenland und Mitteleuropa führen.

Die Funktionsweise des IMEC ähnelt der des Konkurrenzprojektes im Irak. Von den Häfen der Vereinigten Arabischen Emirate aus sollen die Waren oder wahlweise die Energieträger auf die Straße, Schiene oder in die Pipeline geleitet werden, um an der Mittelmeerküste wieder auf Schiffe verladen zu werden. Auch der IMEC wäre damit eine Alternative zum Suezkanal und würde die Lieferzeiten von Asien nach Europa stark verkürzen. Doch auch die Kräftegleichgewichte in der Region würden sich entscheidend verändern. Da der IMEC die Türkei und den Irak umgehen würde, lehnen beide die Initiative entschieden ab. Die Islamische Republik Iran steht beiden Projekten mehr als skeptisch gegenüber, da sie den Iran langfristig an den Spielfeldrand manövrieren würden. In der Vergangenheit haben angeblich mit dem Iran verbündete Milizen wiederholt Gas- und Ölpipelines, die in die Türkei führen, unter Beschuss genommen. Der IMEC ist derzeit vor allem durch den Krieg in Gaza noch undenkbar. So zeigen die im Netz kursierenden Kartenskizzen, dass der Übergang vom Land zum Meer genau dort erfolgen soll, wo heute ausgerechnet der umkämpfte Gazastreifen liegt. Auch die Nutzung der zwischen der Türkei und Griechenland umstrittenen Gewässer im Mittelmeer könnte ein weiterer Konfliktpunkt werden. Derweil ist auch die Finanzierung des vermutlich Dutzende Milliarden Dollar schweren Megaprojekts vollständig unklar. Massive Infrastrukturmaßnahmen wie die Errichtung neuer Häfen wären nötig und mehr als 2.000 Kilometer Straßen und Schienennetze müssten gebaut werden. Auch wenn die vollständige Umsetzung des IMECs wohl noch Jahrzehnte dauern dürfte, setzt sie als mögliche Alternative die Türkei unter Druck, möglichst schnell Fakten zu schaffen.

Das größte Hindernis für die türkischen Projekte im Irak ist die Präsenz der PKK in den nördlichen Regionen des Landes. Die sich ankündigende Militäroperation soll nun offensichtlich Abhilfe schaffen. So titelten die beiden türkischen Journalisten Levent Kemal und Ragip Soylu schon am Tag vor der irakisch-türkischen Erklärung im Middle East Eye online, dass die Türkei eine »Militäroperation zur Sicherung des Straßen-Schienen-Projektes zum Golf« unternehmen werde. Die beiden regierungstreuen Korrespondenten erklärten, dass die Operation »nahe der Territorien der Demokratischen Partei Kurdistans« stattfinden würde; man wolle »den Zugang der PKK zu Mossul abzuschneiden«. Dabei zitierten die beiden Journalisten eine nicht weiter genannte Quelle, vermutlich aus dem türkischen Staatsapparat, die festhält, dass »das Hauptziel der Türkei (…) sehr klar« sei. Es gehe darum »die Präsenz der PKK in Metîna und Gare«, die das »Iraq Development Project ernsthaft gefährden« könnte, zu beenden. So sollen »zwei Ziele in einem Schritt erreicht« werden, nämlich die Sicherung der Grenze und die Umsetzung des vielversprechenden Bauprojektes.

Zurückdrängung des Iran?

Doch auch die iranischen Milizen sind für Ankara ein potentiell unberechenbarer Faktor. Auch wenn Vertreter der Milizen bei den jüngsten Gesprächen anwesend waren, so ist nicht gesagt, dass ein Abkommen erreicht werden konnte. So verweist die türkische Denkfabrik ORSAM in ihrem Artikel zum Development Road Projekt wohl nicht umsonst auf das »Sindschar-Abkommen« von 2020, das auch die Entwaffnung der Volksmobilisierungskräfte vorgesehen hatte, und betont, dass die Umsetzung des Abkommens »engstens mit der Verwirklichung des Projektes« verbunden sei. Auch das Onlinemagazin Turkish Minute, dem eine sehr enge Verbindung zur Gülen-Bewegung nachgesagt wird, spekulierte schon am 14. März, ob die PKK lediglich als Vorwand für die türkische Intervention herhalte und das eigentliche Ziel eine Zurückdrängung des iranischen Einflusses im Nordirak sei. So erklärt Autor Bünyamin Tekin unter Verweis auf einen angeblichen ehemaligen türkischen Marineoffizier, dass die Türkei mit ihrer Zustimmung zum NATO-Beitritt Schwedens, dem neuen F-16-Deal mit den USA und zunehmend abkühlenden Beziehungen zu Russland einen »entscheidenden Schwenk in ihrer geopolitischen Haltung« unternommen hätte. Tatsächlich war zuletzt ein gesteigerter diplomatischer Verkehr zwischen den USA und ihren Verbündeten an der NATO Südostflanke zu beobachten. Neben intensiven Gesprächen auf geheimdienstlicher Ebene besuchte eine Delegation unter Führung des US-Außenministers Blinken Ende Februar die Türkei. Auch beim unerwarteten Besuch des US-amerikanischen Verteidigungsministers Austin im Irak am 7. März dieses Jahres könnten die bevorstehenden türkischen Operationen ein Thema gewesen sein.

Derweil stehen die Zeichen im Nordirak auf Sturm. Die Vorbereitungen für den Militäreinsatz laufen offensichtlich schon an. Dass die türkische Militärführung in den vergangenen Wochen mehrfach ihre Stützpunkte entlang der irakisch-türkischen Grenze besuchte, wird von Beobachtern als Warnsignal für einen baldigen Vorstoß gewertet. Nachdem der türkische Verteidigungsminister Yaşar Güler schon kurz nach dem Treffen von Bagdad erklärt hatte, die türkische Operation werde ein Gebiet von 30 bis 40 Kilometern in das Landesinnere hinein umfassen, wendete sich der General am 20. März erneut an die Öffentlichkeit. Laut Güler wird die PKK von einzelnen Elementen im Irak genutzt, denen »das Wachstum der Türkei« ein Dorn im Auge sei. Man werde in naher Zukunft ein »gemeinsames Operationszentrum« mit dem Irak einrichten und den Kampf gegen die PKK intensivieren. Die Schaffung der Development Road bezeichnete Güler als »die wichtigste Aufgabe für die Zukunft der Türkei« und stellte mit Blick auf die langfristige Vision fest, dass zukünftig »alle Waren aus China über die Development Road nach Europa transportiert werden«. Doch angesichts der nunmehr bald neun vergangenen Kriegsjahre und dem spärlichen Erfolg der bisherigen türkischen Offensiven dürfte wohl auch die Guerilla noch ein Wörtchen mitzureden haben.

Tim Krüger schrieb an dieser Stelle zuletzt am 15. Februar 2024 über die Entführung und Inhaftierung von Abdullah Öcalan.

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