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Aus: Ausgabe vom 23.03.2024, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage
Serie

It’s about motherfuckin’, cocksuckin’ money

Die Lenkung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht: Die TV-Serie »Die Sopranos« wird 25 Jahre alt. Ein Sammelsurium
Von Jürgen Roth
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Eine schrecklich nette Familie: Die Sopranos

Es ist sieben Uhr morgens. Ich habe der verdammten Redaktion diesen Text zugesagt. Der gestrige Abend war deftig. Mein Kopf gleicht einer Bauruine.

Ich bin Kulturprotestant (Arbeitsethos, Sie verstehen). Es wird schon gehen (es geht allzeit). Alright, zwei Bier sind noch da.

Ich will mich nicht mit den Feuilletonisten messen, die anlässlich des fünfundzwanzigsten Jubiläums der Ausstrahlung der ersten Folge der »Sopranos« die Seiten vollgemacht haben. Gegen deren unermessliche Klugheit verlierst du immer.

Zu den »Sopranos« findest du überdies alles im Netz. Alles. Auch die berühmte Schlussszene (der Filmriss) ist entschlüsselt. Man schaue auf Youtube »Die ›Sopranos‹. Das Ende. Eine Erklärung« – ein anbetungswürdig detektivisches Stück eines Fans, ein anrührendes Zeugnis der Hingabe.

Ich sitze vor einem Berg von Notizen. Selbstverständlich kann man über die »Sopranos« schreiben, irgend etwas schreiben. Aber man sollte vielleicht doch lieber reden. Und: Vermag man, sich über die Gesellschaftsromane von Balzac kohärent zu unterhalten? Vermag man, sie auf den Begriff zu bringen? Marx scheiterte an dem Vorhaben.

Ich habe zum Glück im Vorfeld (vor dem zugrunde getrunkenen Abend) um Rat ersucht – bei der schönen Frau (Schauspielerin) und bei meinem Freund Kay »Soko« Sokolowsky (Chefcineast).

Let the Sammelsurium begin.

Meine Lieblingsepisode

Eindeutig: »Verschollen im Schnee« (»Pine Barrens«), III/11. Eine Reminiszenz an die Coen-Brüder, für mein Dafürhalten (Regie: Steve Buscemi).

Christopher und Paulie wollten einen verfluchten Russen ausknipsen. Das misslang. Nun suchen sie den geflohenen zähen Russen (der nie wieder auftauchen wird) in einem verschneiten Wald. Sie scheitern und erfrieren beinahe.

Paulie (das Weichei, schließlich der einzige aus der Gang Überlebende) ruft mit letzter Kraft Tony an. Der schnaubt am Mobiltelefon: »The guy you’re looking for is an ex-commando. He killed sixteen ­Chechen rebels single-handed.« Paulie: »Get the fuck outta here!« Tony: »He was with the Interior Ministry. (The) Guy is some kind of Russian green beret.« Paulie zu Christopher, nachdem die Verbindung abgebrochen ist: »You’re not gonna believe this. He killed sixteen Czechoslovakians. (The) Guy was an interior decorator.«

Christopher (vor Kälte zitternd): »His house looked like shit.«

Die Komik

Warum ist ein solcher Satz komisch? »Why don’t you get the fuck out of here, before I shove your quotations book up your fat fuckin’ ass?!«

Ich habe mir notiert: »Komik und Paranoia«. Die Brüllausbrüche, die sich nicht unwesentlich aus Paranoia speisen, werden zusehends massiver. Etwa ab der Mitte der Serie musste ich da ständig lachen. Das haben die Sopranos unübersehbar mit Scorsese gemein.

Soko: Ja. Das ist eines der zentralen Erbstücke aus »Goodfellas«. »Goodfellas« ist meines Erachtens einer der komischsten Filme, die jemals gedreht wurden. Sooft ich ihn sehe, ich bin jedes Mal wieder durchgeschüttelt vor Lachen. Eine astrale Komik. Und die Brüllattacken von Tony Soprano kommen direkt aus den Dialogen und aus den Monologen, die Joe Pesci hält. Das ist eine tiefe Verneigung. Die »Sopranos« sind »Goodfellas« in mehreren Staffeln.

Die Komik während der Brüllanfälle und in vielen Dialogen ist umwerfend. Es gibt zum Beispiel eine Pokerszene, in der sich Tony Soprano im Hintergrund hält und sich ein unfassbar komisches Gespräch entwickelt, das mit Obszönitäten gespickt ist. Jedes zweite Wort ist »fuck«, wie übrigens auch bei den Zornesausbrüchen von Tony Soprano jedes zweite Wort »fuck« oder ein Derivat von »fuck« ist.

Kurzer Ausschnitt. Silvio Dante (Steven Van Zandt): »What the fuck could you possibly have?« Mitspieler: »Incredible luck.« Silvio: »You’re telling me, you miserable fuck.« Dann zu einem anderen Mitspieler: »Don’t rush me, sunshine! You rush me all fuckin’ night! Do you fuckin’ my mind? Jesus, do you ever shut the fuck up?!«

Die Eskalation ist folgerichtig (Käse­brocken auf dem Fußboden, say no more!).

Soko: Die mangelnde Zurückhaltung bei der Verwendung von zotigen Wörtern ist per se komisch. Und das »fuck« hat schon beinahe lyrische Qualitäten. Und darüber hinaus war James Gandolfini schlicht ein großer Komödiant. Tony Soprano ist bei allem Schweinkram, den er anstellt, eine erzsympathische Figur, unter anderem deshalb, weil er sich keinen Knebel vorbindet. Das hat für den Zuschauer einen kathartischen Effekt. Wer möchte denn nicht reden wie Tony Soprano? Ganz im Ernst. Wenn ich mit meinem Vermieter oder mit einem seiner Hausmeister zu tun habe, würde ich gerne so reden wie Tony Soprano. Ich trau’ mich das natürlich nicht, weil ich kein Mafiaboss bin. Also, es hat etwas sehr Befreiendes, jemanden so grob reden zu hören.

Das Neue und das Alte

Die »Sopranos« wären heute nicht mehr produzierbar, nicht mehr sendbar.

Soko: Da bin ich nicht ganz sicher. Allerdings fürchte ich, dass sie keinen Erfolg mehr hätten. Du kannst dem heutigen Pu­blikum eine so ambivalente Figur wie Tony Soprano nicht mehr zumuten. Das ist meine Beobachtung, wenn ich mir die neusten Produkte des Unterhaltungsfernsehens angucke. Die Figuren sind viel, viel flacher und haben so gut wie keine Grautöne mehr. Es muss eindeutig, eindimensional, flach wie Papier sein: da böse, da gut. Eine Figur mit derart vielen Widersprüchen wie Tony Soprano kommt im heutigen Fernsehen nicht mehr vor, was ein großer Rückschritt ist. Die »Sopranos« waren fürs US-amerikanische Fernsehen ein enormer Fortschritt, weil da zum ersten Mal Figuren, die klar als Verbrecher markiert sind, präsentiert wurden, die genauso sympathisch waren wie Figuren in alten Familienserien. Die »Sopranos« sind vom Genre her nicht bloß eine Gangstergeschichte, es ist auch eine Familienserie. Und Tony Soprano ist keine Schablonenfigur. Der ist ein richtiger Mensch, mit all seinen Inkohärenzen. Man kann ihn nicht festnageln, man kann keine Karteikarte anlegen, auf der in Stichwörtern seine Eigenschaften vermerkt sind.

Er verändert sich, er entwickelt sich über die Jahre – heute undenkbar. Der Tony Soprano der letzten Staffel ist ein völlig anderer Mensch als der in der ersten. Und das ist die Wirklichkeit, das Leben. Wenn du heute eine Gangster-TV-Serie machst, ist das in der Regel eine in Lateinamerika spielende Drogenbarongeschichte. »­Narcos« war ja extrem erfolgreich. Ist keine schlechte Serie, aber diese Escobar-Figur ist wie festgemeißelt. Escobar ist halt das Böse schlechthin. Tony Soprano kann mich überraschen. In jeder Staffel gibt es einen Umschlag seines Charakters, mit dem ich nicht gerechnet habe.

Es gibt nur eine amerikanische Fernsehserie, in der das gleiche passiert, in der sich tragende Figuren entwickeln, und das ist »The Wire«. Und »The Wire« ist ohne die »Sopranos« nicht denkbar. Die haben es vorgemacht. Man kann dem Zuschauer sehr wohl zumuten, der Veränderung einer Figur beizuwohnen, auch wenn es nicht immer so läuft, wie es der Zuschauer gerne hätte. Ich kann mir vorstellen, dass nicht wenige, die die erste Staffel geguckt haben, bei der zweiten gedacht haben: Och je, ach nö! Das ist mir jetzt nicht recht. Den Ausbruch aus dem Klischee goutieren viele nicht. Aber bei den »Sopranos« haben genau das viele goutiert. Die »Sopranos« nehmen ihre Zuschauer ernst! Die Autoren, die Regisseure, die Schauspieler, alle Beteiligten stellen sich ein Publikum aus erwachsenen, mitdenkenden Menschen vor. Und das sehe ich heute nirgendwo mehr. Es wollen ja alle, die noch fernsehen, verarscht werden.

Ich bin einer von den Spätberufenen. Erst auf Zuraten von Gerhard Henschel habe ich da mal reingeguckt, und die erste Folge war wie eine Offenbarung für mich. Mensch, was machen die da im Fernsehen?! Das war für mich etwas völlig Neues.

Die erste Staffel ist auch der schönen Frau die liebste, weil in der noch nicht das totale Chaos ausgebrochen sei.

Ja! Gute Begründung! Nicht meine, trotzdem gut. Ich mag Chaos in Filmen, es kann mir nicht chaotisch genug zugehen. Aber die lassen sich damit eben Zeit. Ich hatte den Eindruck, dass sich die Macher erst trauen mussten, die Dinge aus dem Ruder laufen zu lassen. Das ist in »The Wire« ganz ähnlich. Die dritte Staffel von »The Wire« ist derart direkt und brutal – kein Vergleich mit der ersten!

Die schöne Frau sagt weiter:

Die »Sopranos« sind gegen Ende einer Zeit gedreht worden, in der die übelsten, auch aus Wut und Verzweiflung geborenen Beschimpfungen noch sendbar waren. Wenn du heute Serien guckst, kotzt du im Quadrat. Da empfindet keiner mehr was. All diesen Youngstern, diesen PC-Tussies und Gutmackern, geht es um gar nichts mehr. Die labern ihren Text in einer Sprache, die du nicht aushältst, so weg, die berührt nichts mehr. Es geht halt um irgendwelche schwulen und lesbischen Beziehungen und darum, dass man irgendwie miteinander redet – alles wie in einem Computerspiel. Die Lebenswelten, in denen es wirklich um etwas geht, die interessant sind, gibt es ja nach wie vor, aber im Fernsehen sind sie verlorengegangen. Die Realität schwindet aus dem Leben, und so sieht der Film aus. Die physische Welt hat keine Bedeutung mehr, an ihre Stelle ist die totale Beliebigkeit getreten. Die »Sopranos« kamen noch aus der alten Welt. Die verstehen die Kids heute überhaupt nicht mehr. Das ist der Triumph der Postmoderne.

Warum hegen wir Sympathien für Tony Soprano? Weil seine Welt aufgrund der gleichen Mechanismen kaputtgeht, an denen unsere Welt kaputtgeht: Abbau von Loyalität, tiefe, ins Ich greifende Korruption – das heißt, jeder denkt nur noch an sich –, Unüberschaubarkeit der Verhältnisse, die Zerstörung jeder Konsistenz, jeder Form von Sicherheit. Nichts ist mehr verbürgt. Jeder verarscht jeden, es herrscht der Krieg aller gegen alle.

Wer oder was ist Tony Soprano?

Er benutzt Gläser, Papierkörbe, Computer, Stühle, um anderen seine Position klarzumachen. Ein Badass. Eine zerklüftete Seele. Ein Aufräumer, der mit seinen Angelegenheiten nie fertig wird. Oder wie oder was? Ich frage die schöne Frau. Sie sagt:

Seine Welt ist bekanntlich jene, in der es völlig in Ordnung ist, einfach mal jemanden über den Haufen zu schießen. Das ist in allen Mafiafilmen so: Man hat seine eigenen Gesetze, es geht um die Familie, der eigene Raum wird geschützt. Das kann man in gewissem Maße nachvollziehen und gut finden. Aber im Grunde denkt man: O Gott, das ist ja furchtbar! Es ist eine seltsame Mischung.

Du hast Tony Soprano als Pottarschloch bezeichnet. Aber er ist ein freier Mensch. Das kann man mit ihm teilen oder gar an ihm bewundern – diesen Voluntarismus.

Na ja. Was man vielleicht bewundern kann, ist, dass er den Plan hat, dass er in jeder Situation den Überblick behält, dass er, wenn ihm jemand in die Quere kommt, darüber entscheidet, ob er mit ihm verhandelt oder ihn ausknipst. Er ist gewissermaßen der perfekte General. Das strategische Geschick, das er bis zum Schluss hat, bewundert man. Und darunter liegt die Person, die sich fragt, ob das denn alles richtig ist.

Doch er entwickelt sich. Seine Panikattacken werden immer heftiger. Er muss einen Restbestand an moralischen Sätzen in sich tragen, weil seine Skrupel zunehmen. Oder liegt’s nur daran, dass er merkt, wie ihm langsam die Macht entgleitet?

Nein. Am Anfang ist er ja eine voll funktionsfähige Maschine, die ohne die Panikattacken völlig rund laufen würde. Aber seine menschliche Seite, seine Seele wehrt sich und beginnt sein Generalsdasein zu boykottieren. Etwas sagt ihm: Was mache ich denn da? Aber er handelt weiter als General, und er will weiter bewusst und präzise agieren.

Er ist nach wie vor ziemlich wohlhabend, er könnte sich in den bürgerlichen Ruhestand zurückziehen. Doch das kann er nicht. Er muss das Gangsterleben weiterführen.

Dieses Gangsterleben ist seine Existenz, seine Lebensberechtigung. Normalität kommt in dieser Setzung nicht vor, nicht mal als vage Idee. Er rechtfertigt sein Handeln immer aus den Notwendigkeiten oder Zwängen heraus, und irgendwann merkt er, dass er das nicht mehr wuppen kann und in eine Krise hineinrutscht. Er merkt, da stimmt was nicht, aber er zieht nicht die richtigen Schlüsse daraus. Er sucht irgendwelche Auswege oder Gründe, sei’s die Mutter, sei es dies, sei es das, sei es seine schwere Kindheit.

Der Mann steckt in einer Zwangs­jacke und schlägt gleichzeitig um sich.

Er steckt in einer Art Schizophrenie fest. Wie ein Schuster, der Schuhe repariert, bringt er Konkurrenten um. Andererseits hat er dieses Liebesbedürfnis und dieses Geborgenheitsbedürfnis und das Bedürfnis, lebendig zu sein, und er geht sogar mit seiner Frau zur Therapie, und dazu kommt dieses für die Mafia typische exzessive Bedürfnis zu essen, zu essen, zu essen. Unglaublich. Es wird ununterbrochen gegessen, ununterbrochen wird etwas in sich hineingestopft. Das Essen ist Ausweis existentieller Bedürftigkeit. Die Mafiosi setzen sich ja über alles hinweg. Und indem sie das Essen zelebrieren, zelebrieren sie einerseits etwas Urmenschliches, andererseits wird das zugleich ebenso überhöht. Man ist gewissermaßen immer Gott. Deshalb isst man gut. Man isst nicht, weil man Hunger hat, man speist, die ganze Zeit. Allerdings, am heimischen Kühlschrank stopft er wie ein Neurotiker den billigsten Scheiß in sich rein.

Diese morgendlichen Szenen illustrieren die Wiederkehr des Immergleichen. In Shorts und Bademantel kommt er die Treppe runter, unfassbar schlechtgelaunt, und angelt irgendwas aus dem Kühlschrank. Es ist immer die gleiche Szene. Und dann wird wieder gebrüllt. Ich fand das in seiner rituellen Form sehr komisch.

Ja. Aber was ist das? Er wacht auf, und es ist immer scheiße. Nie: Oh, ein neuer Tag! Sondern immer: Fuck, wieder ’n neuer Tag. Und er kriegt’s nicht hin, das zu durchbrechen.

Soko sieht’s so:

Vernünftige Menschen gibt es nur im Fernsehen, nicht in der Talkshow und nicht in den Nachrichten, sondern im erzählenden Fernsehen. Fiktive Figuren in Serien sind auch nicht immer vernünftig, aber es gibt Ausnahmen, und manchmal werden sie ganz hervorragend nach vorne gestellt, und so ein Mensch ist Tony Soprano – ein nicht immer durch und durch rationaler Mensch, aber jemand, den man, sofern man ihm nicht blöd kommt, gerne mal zum Abendessen einladen würde.

Nach welcher Rationalität funktioniert dieser Charakter?

Tony Soprano ist im Grunde nichts anderes als ein Geschäftsmann, der etwas andere Methoden als sogenannte normale Geschäftsleute einsetzt. Er versteht sich auch selber als Geschäftsmann. Die Geschäfte, die er betreibt, sind illegal, seine Methoden sind illegal, aber in sich sind diese Geschäfte nicht anders als die eines Schraubenfabrikanten oder eines Fleischgroßhändlers. Die Gesetze, die gegen Leute wie ihn gemacht worden sind, betrachtet er als lästigen Hemmschuh, doch am Ende tut er ja was für die Volkswirtschaft. Da wird ordentlich Geld bewegt, er gibt zusammen mit seinen Gang-Kumpeln reichlich Kohle aus. Er tut eine Menge dafür, dass die amerikanische Ökonomie funktioniert.

Er pflegt und fördert den Standort?

Der Standort New York hat von Tony Soprano durchaus profitiert, klar. Es wird auch eine Menge Geld am Staat vorbeibewegt, was wichtig ist, denn Schwarzgeld sorgt für Innovationen. Halb Manhattan wäre eine Wüste, hätte die Mafia da nicht so enorm viel gebaut. Das wird gern vergessen. Das Baugewerbe in New York City war bis in die neunziger Jahre fest in Mafiahand.

Der berühmte »Concrete Club«.

Genau. In diesen Kreisen bewegt sich Tony Soprano. Neben den Drogengeschäften, der Prostitution und dem Glücksspiel war der Bau die Domäne der Mafia an der Ostküste. Das hat sich heute ziemlich beruhigt. Die neuen Gangster sind natürlich moralisch keinen Deut besser als die alten und arbeiten ebenfalls im Graubereich zwischen Recht und Unrecht, stellen es aber schlauer an und haben die besseren Anwälte.

Die »Sopranos« spielen in einer Zeit, in der die Ostküstenmafia langsam im Niedergang begriffen ist und ihre lukrativsten Geschäftsfelder verliert. Man kann in der Serie dabei zusehen, wie ihre überragende Macht zu bröckeln beginnt. Darunter leidet Tony Soprano durchaus. Seine Panikattacken haben, glaube ich, auch etwas damit zu tun, dass der Mob in der Stadt an Einfluss verliert. Seine verzweifelten Versuche, den Laden irgendwie zusammenzuhalten, haben mit dem Druck zu tun, dass immer weniger Geld reinkommt. Die Ostküstenmafia von heute ist nur noch ein blasses Abbild von jener vor dreißig Jahren.

Der Kapitalismus dringt bis in die letzte Nervenbahn vor. Das wird schauspielerisch ausgesprochen plastisch dargestellt. Die ständigen Ausraster, Brüllereien, Angstattacken verschiedener Figuren, das ist gesellschaftsanalytisch brillant gemacht.

Ja. Tony Soprano hat dieselben Sorgen und Zukunftsängste wie ein Fleischgroßhändler. Und dazu kommt die Beobachtung durch die Polizei, die Aussicht auf den Knast. Da ist, um noch halbwegs klarzukommen, der Gang zur Psychiaterin fast unausweichlich.

Dr. Jennifer Melfi, gespielt von Lorraine Bracco. Wir kennen sie aus »Goodfellas«.

O ja! Und eine sehr interessante Figur. Sie ist außerhalb der Soprano-Familie im Grunde die einzige, die vor ihm keine Angst hat. Sie redet mit ihm so, wie niemand sonst mit ihm reden dürfte – vielleicht noch seine Ehefrau, die allerdings sehr lange braucht, bis sie sich von ihm ein wenig emanzipieren kann. Jennifer Melfi sagt ihm Dinge auf den Kopf zu, für die er andere gerne in den Backofen stecken würde – oder deren Kopf auf die Tischplatte legen, um mit einem Tritt in den Nacken das Gebiss zu entfernen.

In »Goodfellas« ist Lorraine Bracco Karen, die Frau von Henry Hill, gespielt von Ray Liotta.

Eine phantastische Verwandlung! Die Karen in »Goodfellas« nimmt halt alle Vorteile, die eine Mafiaehe so bietet, mit und ist moralisch ähnlich ambivalent wie ihr Ehemann. Die Psychiaterin in den »Sopranos« ist ganz klar im Bürgertum zu Hause; eine anständige, ordentliche Frau, die ihren Job erledigt, indem sie einen Mafiapaten behandelt. Die Figuren bei Scorsese würden nicht zum Psychiater gehen, die würden zum Priester gehen. Tony Soprano geht nicht mehr in die Kirche, das ist auch ein bedeutender Unterschied zu den Filmen von Scorsese und Francis Ford Coppola.

Sie ist aber nicht nur das Korrektiv, sondern irgendwann kommt auch ein deutlicher erotischer Unterstrom dazu. Sie fühlt sich von ihm angezogen.

Sicher. Man kann ja nicht bestreiten, dass diese sehr kraftvolle Figur Tony Soprano vor einer Männlichkeit dampft, die heute abgeschafft ist – die vielleicht letzte durch und durch machohafte Figur im Unterhaltungsfernsehen der USA. Auch seine ziemlich wasserdichte Skrupellosigkeit zieht sie an.

Überdies ist Tony Soprano nicht der ­treuste Mensch der Welt. Er will ja jede schöne Frau flachlegen, was selbstverständlich auch ein mafiaspezifisches Statusverhalten ist. Man muss schon alle paar Monate eine neue aufreißen, um vor den Jungs gut dazustehen. Das gehört zum Geschäftsmodell, zur habituellen Selbstbehauptung als Boss der Organisation. Auf Youtube habe ich mir auch einen Zusammenschnitt von Szenen angesehen, in denen er Konkurrenten maßregelt – wenn man das so nennen kann. Allerdings unterscheidet ihn da wieder einiges von den brutalen Figuren bei Scorsese, zumal den Charakteren, die Joe Pesci in »Goodfellas« und »Casino« verkörpert. Die leben ihre Brutalität nicht zuletzt aus Sadismus aus. Die empfinden dabei Lust. Tony Soprano hat nicht viel Vergnügen daran, wenn er Leute krankenhausreif schlägt. Es ist eine Machtdemonstration, aber nicht sein Hobby. Er macht das nicht aus Daffke, er hat immer ein Ziel: die Behauptung in einer recht ruppigen Umwelt. Seine Panikattacken resultieren wohl zu einem Gutteil daraus, dass er im Kern eigentlich ein anständiger Typ ist, der anderen nicht aufs Maul hauen will. Der will doch lieber die Dinge bei einer Tasse Kaffee regeln, während die Joe-Pesci-Figuren sich darüber ärgern, dass sie nicht jeden zusammenschlagen können, der sie blöd anguckt. Tony Soprano ist kein Psycho. Er ist im Grunde ein normaler Mittelständler mit dessen Problemen, mit der Angst vor sexuellem Versagen, der Angst vor geschäftlichem Versagen, der Angst davor, in der Familie nicht respektiert zu werden.

Ökonomie

Einmal blafft Tony Soprano seine Psychiaterin an (er tut’s fürwahr nicht bloß einmal): »This is, what it’s all about, right? Motherfuckin’, cocksuckin’ money!«

Und ein andermal sagt er etwas über Geschichte (approximativ übersetzt): »Als Amerika die Tore geöffnet hat und uns Italiener reinließ, warum, glauben Sie, haben sie das gemacht? Weil sie uns aus der Armut holen wollten? Nein, sie machten das, weil sie uns brauchten. Sie brauchten uns, damit wir ihre Städte bauten, ihre U-Bahntunnel gruben und um sie reicher zu machen. Die Carnegies und die Rockefellers und all die anderen, die brauchten Arbeitsbienen, und wir waren bereit. Aber einige von uns wollten nicht um ihren Bienenstock herumschwirren und ihre Identität aufgeben. Wir wollten Italiener bleiben und die Dinge, die uns etwas bedeuten, bewahren: Ehre und Familie und Loyalität. (…) Und wir hatten die Eier, um uns das zu nehmen, was wir haben wollten.«

Das ist die ganze Geschichte.

Jürgen Roth, Jahrgang 1968, ist Schriftsteller und Sprachwissenschaftler. Er ist regelmäßiger Autor des jW-Feuille­tons und einziger Träger der jW-Ehrennadel für hervorragende Sportberichterstattung. Zuletzt erschien von ihm an dieser Stelle in der Ausgabe vom 9./10. März »Wer ist Herr auf dem eigenen Hof?«, eine Reportage vom langen Sterben der bäuerlichen Familienbetriebe.

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