Gegründet 1947 Sa. / So., 27. / 28. April 2024, Nr. 99
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 23.03.2024, Seite 4 (Beilage) / Wochenendbeilage
Schweden

Bargeldlose Gesellschaft

Schweden: Digitalisierte Geldgeschäfte treffen die ärmsten Bevölkerungsgruppen besonders
Von Unai Aranzadi
4.jpg
Mit Geldspenden ist es vorbei: Weihnachtliche Essensausgabe in Stockholm (12.12.2022)

In der Stockholmer Altstadt beobachtet eine Gruppe italienischer Touristen eine Szene, die ihre Aufmerksamkeit erregt. Ein Bettler sitzt neben einem riesigen Sack mit leeren Dosen und Plastikflaschen. Als sie an ihm vorbeigehen, trinken die Passanten ihre Getränke aus und werfen die Behälter als Almosen in den Sack. Verblüfft zögert einer der italienischen Touristen, bringt aber schließlich den Mut auf, den Bettler zu fragen: »Warum bekommst du Flaschen und keine Münzen?«, woraufhin der Bettler antwortet: »Weil in Schweden niemand mehr Geld bei sich trägt.« Flaschen sind heute eine der letzten Möglichkeiten für die Ärmsten, durch Betteln an Geld zu kommen. Die Dosen und Flaschen werden an Recyclingautomaten getauscht, die zehn Kronen (knapp neun Eurocent) pro Behälter zahlen, und sind zu einer Art Wertmarke geworden, für die man Geld in Form von Scheinen oder Münzen erhält.

Doch die Bettler sind keineswegs die einzigen, die sich etwas überlegen mussten, um weiterhin die Spenden zu erhalten, die bis vor einigen Jahren noch aus den Brieftaschen und Geldbörsen kamen. In der Gemeinde von Tureberg, einem nördlichen Vorort von Stockholm, verteilen zwei Frauen Klingelbeutel, um Spenden zu sammeln. Statt Münzen einzuwerfen, nehmen die Gemeindemitglieder kleine grüne Jetons mit einem QR-Code in die Hand, um mit der Kamera ihres Smartphones eine Spende zu tätigen. Laut Anna, einem Mitglied der Kirche, laufe das schon seit der Zeit vor den Covid-Maßnahmen. »Vielleicht ist es nicht ideal, den Überblick darüber zu behalten, wer, wann und wie viel Geld man spendet, aber in einer bargeldlosen Gesellschaft wie der unseren mussten wir etwas erfinden, und das ist es, was wir jetzt haben«, sagt sie und schaltet ihr Telefon aus, nachdem sie eine Spende ohne die QR-Code-Anwendung gegeben hat. Sie nutzt die digitale Bezahl-App Swish.

Alles digital

»Swish me or I’ll swish you« ist zu einer geflügelten Phrase geworden, die etwa von Teenagern benutzt wird, die sich gegenseitig Geld schulden sowie von allen, die gebrauchte Waren kaufen, oder von Freunden, die Kosten für eine Autofahrt teilen wollen. Das Bezahlen mit diesen mobilen Anwendungen, wie Bizum in Spanien oder Lydia in Frankreich, ist in ganz Europa bekannt, aber die Akzeptanz dieser Methode in Schweden ist außergewöhnlich. Wenn man zum Beispiel in den beliebten Skigebieten Jämtlands sein Auto parkt oder den Eintritt zu einem Flohmarkt bezahlt, ist Swish oft das einzige akzeptierte Zahlungsmittel. Selbst Kredit- und Debitkarten gehören allmählich der Vergangenheit an.

5-2.jpg
Zumindest nicht im Müll: Noch gibt es die Möglichkeit, Bargeld für Pfand zu bekommen

Nicht umsonst gab es schon vor 20 Jahren große Fortschritte bei der Abschaffung der kontaktbehafteten Bezahlung. Das war – und ist immer noch – der Fall bei der digitalen Kennzeichenerfassung. Das Ticket für die Einfahrt in eine Stadt zur Hauptverkehrszeit oder für die Benutzung einer Brücke wird direkt anhand der Steueridentifikationsnummer verrechnet, und das ist nicht fakultativ, sondern die einzige Möglichkeit zu bezahlen. Ähnlich verhält es sich mit den Parkplätzen in Einkaufszentren, seit es dort keine Schranken mehr gibt. Wird das Parkhaus verlassen, ohne vorher an den Automaten zu bezahlen, wird man dank der Kameras, die Ein- und Ausfahrt erfasst haben, im Anschluss zur Kasse gebeten. In dieser Hinsicht wurde ein qualitativer Sprung an Orten wie den städtischen Recycling- und Bauschuttdeponien vollzogen. Seit einigen Monaten erkennen die Kameras nicht nur die Anwesenheit von Fahrzeugen, sondern erfassen auch die Aktivitäten. Wird eine bestimmte Menge Abfall überschritten, wird automatisch eine Gebühr über die Kennzeichenerfassung erhoben und die Überschreitung der zumutbaren häuslichen Nutzung in Rechnung gestellt.

Es überrascht nicht, dass der Übergang zu einer bargeldlosen Gesellschaft die ärmsten Bevölkerungsgruppen des Landes am stärksten trifft. Dies gilt unter anderem für Einwanderer, die irregulär einreisen. Ohne die Möglichkeit, eine Personennummer zu erhalten (eine persönliche Identifikationsnummer, die in Schweden sogar für die Mitgliedschaft in einem Fitnessstudio erforderlich ist), können sie kein Swish-Konto eröffnen, geschweige denn eine schwedische Kreditkarte erhalten. In einem Land, in dem Bargeld nicht mehr verwendet wird, kann dies zu einem ernsten Problem werden, da es daran hindert, so grundlegende Dinge wie den Kauf von Milch, die Bezahlung eines Busses oder von Medikamenten in der Apotheke zu erledigen.

Außerdem geben die Bankschalter in Schweden, einem Pionierland der Geldautomaten (sie wurden im Juli 1967 eröffnet, wenige Wochen nach dem ersten in London), kein Bargeld mehr aus oder nehmen es entgegen. Sie tauschen auch keine ausländischen Währungen um, selbst wenn es sich um Euro oder US-Dollar handelt. Sie behaupten, bargeldlos zu sein, und fassen einfach kein Geld an, auch nicht die schwedische Krone selbst. Laut Forex (der wichtigsten Wechselstube des Landes) ist das Problem des bargeldlosen Schwedens auch im Ausland zu spüren, da viele Geldwechsler in anderen Ländern keine schwedischen Kronen umtauschen wollen, weil sie von den Banken in Schweden nicht angenommen werden. Für Åsa Lundqvist, Pressesprecherin der Swedbank, ein Problem der Kontrolle und des Vertrauens, da die Banknoten bereits unter dem Verdacht der Geldwäscherei stehen.

5.JPG
Bargeldfreies Geschäft: Diesen Hinweis gibt es in Schweden vom Bäcker bis zum Museum (Stockholm, 18.12.2019)

Es gibt keinen Plan B

Aber was würde im Falle eines Cyberangriffs auf das Bankensystem, eines Internetausfalls oder eines einfachen Stromausfalls passieren? Darauf hat niemand eine Antwort, und dieses Szenario steht auch nicht in dem Handbuch, das die Regierung in den letzten Jahren an alle schwedischen Haushalte verschickt hat (unter dem Titel: »Wie man im Notfall oder im Krieg überlebt«). Dieses Vakuum in einem Land, das dafür bekannt ist, alles vorauszusehen, war ein fruchtbarer Boden für das Wachstum einer Bewegung, die Ressourcen wie Konserven, Jodtabletten und Dynamoradios sammelt, um im Falle einer Nuklearkata­strophe, eines Cyberangriffs oder einer Invasion zu überleben. Sie sind inzwischen international als »Prepper« bekannt.

Für Magnus Svensson, einen Anhänger dieser Bewegung, bleibt nichts anderes übrig, als auf eigene Faust Lösungen zu finden. »Wenn du weißt, dass etwas passieren könnte, aber dein Land und seine Führung keine Pläne haben, musst du selbst handeln. Man kann sich nicht einfach zurücklehnen und hoffen, dass nichts passiert und dass sich die Dinge von selbst regeln.« Helena, Mitarbeiterin einer Filiale der Svenska Handelsbanken, ältestes und größtes Finanzhaus Skandinaviens, gibt unumwunden zu: »Nein, für den Fall, dass das Internet oder das Stromnetz ausfällt, gibt es keinen Plan B, um zu sehen, wie wir mit dem Problem des bargeldlosen Zahlungsverkehrs umgehen. Wir verlassen uns auf das System, das robust ist, aber für den Fall der Fälle bewahrt mein Mann etwas Bargeld auf.«

Angesichts dieses Kontrollmodells und im Rahmen der neuen digitalen Realität schlagen einige anarchistische und liberale Gruppen die Zahlung mit Kryptowährungen als anonyme, bargeldähnliche Zahlungsform vor. Doch noch ist dieses Zahlungsmittel nicht realistisch, da fast alle schwedischen Geschäfte und Unternehmen solche Transaktionen nicht akzeptieren. Derzeit gibt es keinen Staat auf der Welt, der völlig bargeldlos ist, aber wenn es einen gibt, der einem solchen Status näher kommt als alle anderen, dann ist es Schweden, sagt auch der European Payments Council. Für die einen ist es ironisch, für die anderen bedeutungsvoll: Schweden war 1661 das erste Land der Welt, das Banknoten, wie wir sie kennen, ausgab. Und wenn der gegenwärtige Trend anhält, wird es abermals, diesmal mit dem Gegenteil, in die Geschichte eingehen, als erstes Land, dass auf Bargeld verzichtet.

2 Wochen kostenlos testen

Die Grenzen in Europa wurden bereits 1999 durch militärische Gewalt verschoben. Heute wie damals berichtet die Tageszeitung junge Welt über Aufrüstung und mediales Kriegsgetrommel. Kriegstüchtigkeit wird zur neuen Normalität erklärt. Nicht mit uns!

Informieren Sie sich durch die junge Welt: Testen Sie für zwei Wochen die gedruckte Zeitung. Sie bekommen sie kostenlos in Ihren Briefkasten. Das Angebot endet automatisch und muss nicht abbestellt werden.

Ähnliche:

  • »Stell dir vor, es ist Schule, und kein Lehrer ist da« (Verdi-De...
    27.12.2023

    Mission Volksverdummung

    Jahresrückblick 2023. Heute: Bildung. Historischer Lehrermangel, Digitalisierung mit dem Holzhammer und Kultusminister, die Öl ins Feuer gießen
  • Nachstellung der Gefängniszelle von Julian Assange bei einem Pro...
    11.04.2023

    Vier Jahre Isolation und Folter

    11. April 2019: Verhaftung von Julian Assange in London. Seither sitzt der Journalist in Hochsicherheitsgefängnis und kämpft gegen Auslieferung

Regio:

Mehr aus: Wochenendbeilage