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Aus: Ausgabe vom 23.03.2024, Seite 3 (Beilage) / Wochenendbeilage

Mehr als bloße Denkgesetze

Friedrich Engels in der »Dialektik der Natur«: Ein allgemeines Gesetz der Natur-, Gesellschafts- und Denkentwicklung auszusprechen ist eine weltgeschichtliche Tat
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Darstellung der Dialektik aus dem Jahr 1565

Dialektik (Allgemeine Natur der Dialektik als Wissenschaft von den Zusammenhängen im Gegensatz zur Metaphysik zu entwickeln.)

Es ist also die Geschichte der Natur wie der menschlichen Gesellschaft, aus der die Gesetze der Dialektik abstrahiert werden. Sie sind eben nichts andres als die allgemeinsten Gesetze dieser beiden Phasen der geschichtlichen Entwicklung sowie des Denkens selbst. Und zwar reduzieren sie sich der Hauptsache nach auf drei:

das Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität und umgekehrt;

das Gesetz von der Durchdringung der Gegensätze;

das Gesetz von der Negation der Negation.

Alle drei sind von Hegel in seiner idealistischen Weise als bloße Denkgesetze entwickelt: das erste im ersten Teil der »Logik«, in der Lehre vom Sein; das zweite füllt den ganzen zweiten und weitaus bedeutendsten Teil seiner »Logik« aus, die Lehre vom Wesen; das dritte endlich figuriert als Grundgesetz für den Aufbau des ganzen Systems. Der Fehler liegt darin, dass diese Gesetze als Denkgesetze der Natur und Geschichte aufoktroyiert, nicht aus ihnen abgeleitet werden. Daraus entsteht dann die ganze gezwungene und oft haarsträubende Konstruktion: Die Welt, sie mag wollen oder nicht, soll sich nach einem Gedankensystem einrichten, das selbst wieder nur das Produkt einer bestimmten Entwicklungsstufe des menschlichen Denkens ist. (…)

Wir haben hier kein Handbuch der Dialektik zu verfassen, sondern nur nachzuweisen, dass die dialektischen Gesetze wirkliche Entwicklungsgesetze der Natur, also auch für die theoretische Naturforschung gültig sind. Wir können daher auf den innern Zusammenhang jener Gesetze unter sich nicht eingehn.

1. Gesetz vom Umschlagen von Quantität in Qualität und umgekehrt. Dies können wir für unsern Zweck dahin ausdrücken, dass in der Natur, in einer für jeden Einzelfall genau feststehenden Weise, qualitative Änderungen nur stattfinden können durch quantitativen Zusatz oder quantitative Entziehung von Materie oder Bewegung (sogenannte Energie).

Alle qualitativen Unterschiede in der Natur beruhen entweder auf verschiedner chemischer Zusammensetzung oder auf verschiednen Mengen respektive Formen von Bewegung (Energie) oder, was fast immer der Fall, auf beiden. Es ist also unmöglich, ohne Zufuhr respektive Hinwegnahme von Materie oder von Bewegung, d. h. ohne quantitative Änderung des betreffenden Körpers, seine Qualität zu ändern. In dieser Form erscheint also der mysteriöse Hegelsche Satz nicht nur ganz rationell, sondern selbst ziemlich einleuchtend. (…)

Endlich aber gilt das Hegelsche Gesetz nicht nur für die zusammengesetzten Körper, sondern auch für die chemischen Elemente selbst. Wir wissen jetzt, »dass die chemischen Eigenschaften der Elemente eine periodische Funktion der Atomgewichte sind« (Roscoe-Schorlemmer: »Ausführliches Lehrbuch der Chemie«, II. Band, Seite 823), dass also ihre Qualität bedingt ist durch die Quantität ihres Atomgewichts.

Und die Probe hierauf ist glänzend gemacht worden. Mendelejew wies nach, dass in den nach den Atomgewichten angeordneten Reihen verwandter Elemente verschiedene Lücken sich vorfinden, die darauf hindeuten, dass hier noch neue Elemente zu entdecken sind. Eins dieser unbekannten Elemente, das er Ekaaluminium nannte, weil es in der mit Aluminium anfangenden Reihe auf dieses folgt, beschrieb er nach seinen allgemeinen chemischen Eigenschaften im voraus und sagte sein spezifisches und Atomgewicht wie sein Atomvolum annähernd vorher. Wenige Jahre später entdeckte Lecoq de Boisbaudran dies Element wirklich, und die Vorausbestimmungen Mendelejews trafen bis auf ganz geringe Abweichungen zu. Das Ekaaluminium war realisiert im Gallium (ebendaselbst, Seite 828). Vermittelst der – unbewussten – Anwendung des Hegelschen Gesetzes vom Umschlagen der Quantität in Qualität war Mendelejew eine wissenschaftliche Tat gelungen, die sich der Le Verriers in der Berechnung der Bahn des noch unbekannten Planeten Neptun kühn an die Seite stellen darf. (…)

Wahrscheinlich werden dieselben Herren, die bisher das Umschlagen von Quantität in Qualität als Mystizismus und unverständlichen Transzendentalismus verschrien haben, jetzt erklären, es sei ja etwas ganz Selbstverständliches, Triviales und Plattes, das sie seit langer Zeit angewandt hätten, und somit werde ihnen gar nichts Neues gelehrt. Ein allgemeines Gesetz der Natur-, Gesellschafts- und Denkentwicklung zum erstenmal in seiner allgemein geltenden Form ausgesprochen zu haben, das bleibt aber immer eine weltgeschichtliche Tat. Und wenn die Herren seit Jahren Quantität und Qualität haben ineinander umschlagen lassen, ohne zu wissen, was sie taten, so werden sie sich trösten müssen mit Molières Monsieur Jourdain, der auch sein Leben lang Prosa gesprochen hatte, ohne das geringste davon zu ahnen.

Friedrich Engels: Dialektik der Natur. Archiw K. Marxa i F. Engelsa. Moskau/Leningrad 1925. Hier zitiert nach: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke (MEW), Band 20. Dietz-Verlag, Berlin 1968, S. 348–353

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