Gegründet 1947 Sa. / So., 27. / 28. April 2024, Nr. 99
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 23.03.2024, Seite 1 (Beilage) / Wochenendbeilage
Groß- und Einzelhandel

»Die Konzerne geben momentan den Takt vor«

In der festgefahrenen Auseinandersetzung um höhere Löhne für die Beschäftigten im Handel ist Verdi in der Defensive. Ein Gespräch mit Orhan Akman
Interview: Susanne Knütter
Schritt zurück? Beschäftigte zeigen ein Herz für Kolleginnen und Kollegen im Handel (Köln, 16.2.2024)
Orhan Akman

Die Tarifauseinandersetzung im Groß- und Einzelhandel begann vor ziemlich genau einem Jahr. Von mehr als 60 ergebnislosen Verhandlungen ist die Rede. Für Außenstehende erscheint die Tarifrunde festgefahren, auch wegen des Vorgehens der verhandelnden Gewerkschaft, Verdi. Daher zunächst: Was macht Verdi im Handel richtig?

Bei Verdi stehen die Kolleginnen und Kollegen im Mittelpunkt, die sich an Aktionen und Streiks beteiligen, unterstützt von hauptamtlichen Gewerkschaftssekretären, die sich mit viel Engagement für die Mitglieder in dieser Streikbewegung einsetzen. Und Streiks verändern ja auch Belegschaften und stärken ihr Klassenbewusstsein. Richtig ist auch, auf regionale Aktionen zu setzen. Die Bewegung muss vor Ort organisiert werden und stattfinden. Im Fachbereich Handel muss man aber die Struktur der Tarifverträge und der Verhandlungen meines Erachtens zentralisieren – eben damit die Mitglieder im Zentrum stehen und Hauptamtliche die Möglichkeit erhalten, sie vor Ort noch besser zu unterstützen.

Das für den Handel zuständige Vorstandsmitglied, Silke Zimmer, betont hingegen die Wichtigkeit der regionalen Verhandlungen. Gleichzeitig, und das wird bereits bei Verdi kritisiert, können die Landesverbände keinen selbständigen Abschluss machen.

Bis vor kurzem galt, dass es für die hauptamtlichen Verhandlungsführer aus den Landesbezirken sowohl eine Verhandlungs- als auch eine Abschlussvollmacht gab. Silke Zimmers erste Tat als neues Vorstandsmitglied war, den Kollegen vor Ort die Abschlussvollmachten zu entziehen und die regionalen Tarifkommissionen damit zu entmachten. Das ist ein Misstrauen gegenüber unserer Basis, das man nicht so stehenlassen kann. Wenn ich Verhandlungsführer wäre oder Mitglied einer regionalen Tarifkommission, würde ich Silke Zimmer mit diesem Widerspruch konfrontieren.

Warum bleibt es so ruhig?

Es gibt Kritik, aber die wird anscheinend bisher nur hinter verschlossenen Türen geübt. Solche Debatten gehören in die Öffentlichkeit, damit Beschäftigte, die sich bei uns organisieren wollen und die wir ansprechen müssen, wissen, wie wir arbeiten.

Warum wurden Verhandlungs- und Abschlussmacht überhaupt getrennt?

Es gab Ende 2023 eine Resolution aus dem Tarifgebiet Baden-Württemberg, in der die Mitglieder im Grunde gesagt haben, dass wir jetzt einen Tarifvertrag abschließen müssten. Jeder Monat, in dem der Tarifkonflikt ungelöst weitergeht, bedeutet für die Beschäftigten Einkommensverluste. Solche Sorgen sollte man ernst nehmen und nicht versuchen, sie mit Formalismus zum Schweigen zu bringen.

Ist dieses uneindeutige Vorgehen der Grund, warum es zu keinem Abschluss kommt?

Verdi hat sich im Handel nach Lage der Dinge wohl verkalkuliert. Spätestens im Oktober 2022, als die Ampelregierung beschlossen hatte, dass es eine Inflationsausgleichsprämie gibt, war klar, dass nicht nur die Unternehmen auf diesen Zug springen, sondern auch viele Beschäftigte sich eine solche Prämie erhoffen, weil 3.000 Euro steuer- und abgabenfrei eine Menge Holz ist, besonders für eine Verkäuferin mit Kindern. Man hätte bereits Ende 2022 eine Inflationsausgleichsprämie mit den Unternehmen verhandeln können. Es gab sogar betriebliche Stimmen, die das eingefordert haben, wie die Betriebsräte von Amazon. Verdi hat sich im Handel dagegen ausgesprochen. Das ist das eine Problem im Werdegang der Tarifverhandlungen. Das zweite ist das Pochen auf Regionalität.

Hätte Verdi im Handel schneller zu einem Abschluss kommen können?

Anscheinend hat die Gewerkschaft nicht genügend Kampfkraft, die Konzerne zu Zugeständnissen zu zwingen. 2,50 Euro mehr pro Stunde ist eine Forderung und zwischen der Forderung und einem Kompromiss gibt es meistens ein Delta. Daher sollte man nicht vehement auf Forderungen beharren, sondern die dahinterstehenden Interessen wahrnehmen. Erfolgreiche Verhandlungen verlaufen so: Wenn man in einem Punkt in eine Sackgasse geraten ist, muss man innovativ werden, andere Themen bewegen. Das ist aber offenbar nicht überzeugend geschehen. Deshalb konnte der Arbeitgeberverband HDE seit Sommer 2023 die öffentliche Deutungshoheit über die Verhandlungen bekommen. Die Konzerne geben momentan den Takt vor, aber anstatt darauf zu reagieren, haben Verdi-Spitzenfunktionäre schon im Sommer angefangen, zunächst mit einem heißen Herbst und dann mit dem Weihnachtsstreik zu drohen. Das ist nach allen Regeln der Verhandlungsführung kein geeignetes und zielführendes Vorgehen. Und vor allem: Wenn man Streiks zu Weihnachten ankündigt, muss man auch solche Arbeitsniederlegungen organisieren, die spürbare Wirkung entfalten. Davon habe ich wenig mitbekommen. Und damit ist Verdi im Handel leider im neuen Jahr völlig in die Defensive gekommen. Und was macht man jetzt? Man verteilt Herzchen in den Filialen.

Was ist damit gemeint?

Ein Herz für die Beschäftigten im Handel. Ich halte wenig von dieser Aktionsform, erst recht nach mehr als einem Jahr Tarifbewegung, das ist ein Schritt rückwärts. Normalerweise werden diese Formen von Aktionen zu Beginn einer Tarifrunde umgesetzt.

Das heißt, die Beschäftigten sind müde? Hat die Streikbereitschaft abgenommen?

Ich habe Tarifrunden in unterschiedlichen Funktionen in der Organisation seit 2002 begleitet. Eine Erfahrung ist, dass wir uns als Gewerkschaft mit langanhaltenden Tarifrunden schwertun. Das hat mit der Filialstruktur und der Erosion der Tarifbindung der Branche, mit der Teilzeit- und Minijobquote, den Befristungen und somit mit einem schwindenden Organisationsgrad zu tun. Und man darf nicht vergessen: Mit ihren einseitigen Tariferhöhungen im Oktober 2023 um 5,3 Prozent und jetzt noch einmal um 4,7 Prozent im Jahr 2024 haben die Konzerne demonstriert, dass sie auch ohne Tarifvertrag leben können. Das muss für uns eine Alarmglocke sein.

Silke Zimmer betont, dass es keinen Reallohnverlust geben soll. Ist das nicht richtig?

Selbstverständlich muss das Ziel sein, Reallohnverluste zu verhindern, die Frage ist nur, mit welchen Instrumenten. Die Verhandlungen finden nicht im luftleeren Raum statt. Es gab Verdi-Abschlüsse in anderen Branchen, die einen Rahmen vorgeben. Ich erinnere unter anderem an die Abschlüsse im öffentlichen Dienst, bei der Post, bei Kunst, Pappe und Kunststoffen. Dort wurden teilweise die Parameter verschoben, indem eine unheimlich hohe Anzahl von Nullmonaten vereinbart wurde, also Monaten ohne tabellenwirksame Lohnerhöhung. Bei der Deutschen Post, einem kerngesunden Unternehmen, das über acht Milliarden Gewinn eingefahren hat, hat Verdi 16 Nullmonate akzeptiert. Von 24 Monaten im öffentlichen Dienst sind 14 Nullmonate akzeptiert worden. Man hat sich dort als Instrument der Inflationsausgleichsprämie bedient und sie als Ersatz für tabellenwirksame Lohnerhöhungen tarifiert. Wenn man ehrlich rechnet, sind das alles Abschlüsse, die mindestens im ersten Tarifjahr Reallohnverluste bedeuten. Und in diesen Bereichen sind wir besser organisiert als im Handel. Das heißt, wenn wir dort Tarifverträge mit bis zu 16 Nullmonaten und die Zahlung einer Inflationsausgleichsprämie abschließen, dann ist damit eine Marke gesetzt, dem kann sich auch der Handel schwer entziehen.

Etwas Bewegung gibt es. Aus NRW sind neue Ideen in die Verhandlungen eingebracht …

… die nach meiner Kenntnis nicht mit den Tarifkommissionen der anderen Landesbezirke koordiniert wurden. Nach neun Monaten Verhandlung schlug Verdi im Groß- und Außenhandel in NRW eine Mitgliedervorteilsregelung vor. Das ist doch keine Kompromisslösung und wurde von den Unternehmen entsprechend prompt abgelehnt! Oder eine Erhöhung und Dynamisierung des Urlaubsgeldes? Da müsste der Tarifvertrag, der Urlaubs- und Weihnachtsgeld regelt und derzeit nicht verhandelt wird, zusätzlich geöffnet werden – und zwar in allen Tarifgebieten, sollte diese Idee tatsächlich Modellcharakter haben. Oder einen »Zukunftsfonds«, was mit einer Lohnerhöhung nun wirklich gar nichts mehr zu tun hat. Welchen Mehrwert in der Geldbörse hätten unsere Mitglieder davon? Das zeigt erneut, wie sinnvoll offene Diskussionen mit den Beschäftigten in den Betrieben und in den Tarifkommissionen sind: Eine solche Diskussion hätte sicherlich zu besseren Kompromissvorschlägen geführt.

Das heißt, auch auf Landesebene manövriert Verdi sich immer weiter in eine Sackgasse?

NRW war der Landesbezirk, wo Silke Zimmer den Handel bis September 2023 geleitet hat. Es wird deshalb vermutet, dass diese Ideen direkt aus Ihrer Feder stammen, mindestens aber mit ihrer Beteiligung entwickelt wurden. Es darf bezweifelt werden, dass durch solche Ideen die gegnerische Seite zu einem Verhandlungskompromiss bewegt werden kann. Dabei sind Kompromisslösungen möglich. Im inzwischen zehnten Verhandlungsmonat kann man den Tarifvertrag binnen einer Woche abschließen.

Verdi hat in der Vergangenheit schon mal kürzer verhandelt. Auch besser?

Wir haben mindestens zwei Indikatoren, die gegen uns sprechen. Das eine ist die Tarifbindung. Die nimmt im Handel rasant ab – seit Jahren. Im Groß- und Außenhandel wenden 82 Prozent der Betriebe keine Tarifverträge an, im Einzel- und Versandhandel sind das 83 Prozent der Betriebe. Und wir haben es als Verdi nicht geschafft, diese Erosion zu stoppen. Und auch die aktuelle Bundesregierung trifft keine Maßnahmen zur Stärkung der Tarifbindung, obwohl fast der gesamte Verdi-Bundesvorstand aus Mitgliedern der Parteien besteht, die die Ampelregierung bilden! Trotzdem hat die Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeit für den privaten Dienstleistungssektor keine Rolle gespielt. Es ist offensichtlich, dass die Kapitalseite bessere Zugänge zur Regierung unterhält.

Der andere Indikator ist, dass wir im Handel nicht unbedingt stärker werden. Das heißt, wir haben zwar immer wieder Tarifverträge abgeschlossen, aber die tariflichen Standards schützen immer weniger Beschäftigte. Von daher haben wir, das heißt die Beschäftigten im Handel, ein massives Problem, das schnellstmöglich gelöst werden muss. Ein erster Schritt besteht darin, die Tarifverträge und deren Strukturen grundlegend zu erneuern. Ansonsten verlieren wir zunehmend an Bedeutung in den Betrieben und Unternehmen. Dies gilt insbesondere für die neuen Branchen der sogenannten »Pure-Player« wie Amazon, Zalando, jd.com, sowie für die Onlinelieferdienste wie Flink, Flaschenpost, Wolt, Getir, die derzeit allesamt tariffreie Zonen sind.

Wie kann ein möglicher Tarifkompromiss aus Ihrer Sicht aussehen?

Nach meiner persönlichen Einschätzung wird es für Verdi-Handel mehr als schwierig werden, die Zehnprozenterhöhung des HDE noch signifikant zu erhöhen, etwa auf 15 Prozent, die in Baden-Württemberg für die Laufzeit von zwölf Monaten gefordert wurden, nun für 24 Monate zu tarifieren. Was unbedingt jetzt angegangen werden muss, ist deshalb eine möglichst hohe Inflationsausgleichsprämie zu tarifieren. Die Handelsbeschäftigten warten schon seit langem auf die Inflationsausgleichsprämie. Wenn ich Verhandlungsführer wäre, würde ich in einem Paket folgenden möglichen Kompromissvorschlag mit den Tarifkommissionen diskutieren: zehn Prozent plus x. Ein Teil davon als Festgeldbetrag, 24 Monate Laufzeit und eine Inflationsausgleichsprämie bis zu 3.000 Euro pro Beschäftigten, auch für die Teilzeitbeschäftigten und Minijobber. Außerdem die Verhandlungs- und Abschlussverpflichtung beider Tarifvertragsparteien bis zum 1. Mai 2026, eine neue Entgeltstruktur im Einzelhandel auszuhandeln und zu tarifieren, auch mit der Maßgabe, mit einer Schlichtung zu einem Ergebnis zu gelangen, sofern die Tarifparteien es nicht allein hinbekommen. Wer Arbeits- und Altersarmut begegnen will, muss auch an die Entgeltstruktur ran.

Wie sollte die Entgeltstruktur verändert werden?

Regionale Besonderheiten, die einst die Regionalität begründeten, sind längst überholt. Regionalität im Sinne einer breiten basisorientierten Beteiligung ist auch ohne regionale Tarifverträge möglich. Statt daran festzuhalten, was unnötig Geld, Zeit und Ressourcen verschlingt, sind Tarifverträge auf der nationalen und internationalen Ebene anzugehen und umzusetzen.

Die maßgeblichen kapitalistischen Handelsunternehmen agieren national und global. Als Tarifgewerkschaft sollten wir den Blick auf die Wertschöpfungs- und Lieferketten richten und Tarifverträge entlang dieser Ketten anstreben. Hierfür ist im ersten Schritt eine Vereinheitlichung von Flächentarifverträgen durch bundesweite Tarifverträge oder zumindest Rahmentarifverträge mit Mindeststandards notwendig.

Wir müssen deshalb die Verhandlungen im Handel zentralisieren. Entgelttarifverträge sollten nach Sparten abgeschlossen werden und ein Manteltarifvertrag für die gesamte Branche. Ich glaube, dass es auf der HDE-Seite durchaus Unternehmen gibt, mit denen man so was bereden kann. Wenn wir erst einmal einen Tarifvertrag mit der anderen Seite erarbeiten und abschließen, der die neuen Realitäten in den Betrieben wiedergibt, dann glaube ich, ist auch der Weg der Allgemeinverbindlichkeit deutlich leichter als jetzt.

Für welche Konzerne könnten ordentliche Spartentarifverträge abgeschlossen werden?

Die Aktions- und Streikfähigkeit von Verdi in Handel konzentriert sich auf gewisse Teilsegmente, wie man es in den aktuellen Medienberichten verfolgen kann: Das ist in erster Linie der Lebensmittelhandel und das sind die Textilunternehmen plus IKEA. Und wenn man sagt, die Lebensmittelkonzerne haben massiv Geld dazuverdient, was ja auch stimmt, dann kann man auch mit den Lebensmittelhändlern über einen gesonderten Entgelttarifvertrag verhandeln. Das sind die vier großen Konzerne: Schwarz-Gruppe mit Kaufland und Lidl, Rewe-Gruppe inklusive Penny, Edeka inklusive Netto-Discounter und letztendlich Aldi. Wenn man die in der aktuellen Tarifrunde tarifieren würde, glaube ich, dass die anderen nachziehen.

Und wir müssen dringend über einen Tarifvertrag für die Online- und Lieferdienste reden. Amazon, Otto, Zalando: Diese Unternehmen haben vergleichbare Tätigkeiten. Warum reden wir nicht mit diesen Unternehmen über einen Spartentarifvertrag, der passgenaue Lösungen bei der Entlohnung der Beschäftigten vorsieht?

Was würde das für die Beschäftigten der anderen Handelskonzerne, beispielsweise in den Textilunternehmen bedeuten?

Neben dem Manteltarifvertrag und den Entgelttarifverträgen brauchen wir zunehmend auch differenzierte Tarifverträge für einzelne Unternehmen. Ich rede von zusätzlichen Haustarifverträgen auf Unternehmensebene. Wir müssen uns die Frage stellen, wie können digitale Prozesse tarifiert werden? Altersarmut ist ein zentrales Problem. Wie können wir durch die zweite Säule, also die betriebliche Altersvorsorge, da mehr machen? Da hatten wir zum Beispiel mit Rewe einen New Deal ausgehandelt, wovon die Beschäftigten profitiert hätten. Auch das ist an dogmatischen Haltungen innerhalb von Verdi-Handel gescheitert. Der Ansatz bei H & M, die Digitalisierung zu tarifieren, war richtig. Die Beschäftigten bekommen zusätzliche tarifliche Einmalzahlungen als eine Art Digitalisierungsbonus. Also keiner hat denen was weggenommen. Im Gegenteil. Gleichzeitig sind die Beteiligungsrechte der Betriebsräte im Unternehmen erheblich erweitert worden. Wenn man den Flächentarifvertrag stabilisiert und flankierende Maßnahmen in einzelnen Unternehmen angeht, die Themen zu tarifieren, die für die Beschäftigten wichtig sind – das kann auch Plattformökonomie oder die Frage der Nachwuchskräfte sein – dann wären wir relativ zügig auch in diesen Unternehmen ernsthafte Verhandlungspartner. Und wir würden die ehrenamtlichen Betriebsräte wieder näher an uns binden. Das würde uns wieder auch in der Branche stärken. Da bin ich fest von überzeugt.

Man gewinnt den Eindruck, Sie kritisieren Ihre eigene Organisation mehr als den Kapitalverband HDE.

Ich kritisiere, weil ich Verbesserungen für die Beschäftigten will. Die Kritik am Kapitalverband HDE ist selbstredend eine andere. Ich bin Marxist und Antikapitalist. Ich kann mir eine andere, eine menschenwürdigere Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung durchaus vorstellen. In der aktuellen Realität ist der Handel der Handel, der Kapitalist der Kapitalist, der steckt einen Euro rein und möchte zwei Euro rauspressen, indem er die Arbeitskraft ausbeutet, und den Großteil des Mehrwerts für sich behält. Das war niemals anders im Kapitalismus. Deshalb muss verhindert werden, dass wir als Organisation der Beschäftigten an Bedeutung verlieren. Und da wird Kritik zur Pflicht. Wir müssen uns selbstkritisch an die eigene Nase fassen, anstatt alles mit dem HDE und mit dem bösen Kapitalisten zu erklären, wenn es um die Erledigung der eigenen Hausaufgaben geht.

Mindestens ein weiterer Verdi-Kollege hat öffentlich Kritik an der Verdi-Strategie in dieser Verhandlungsrunde geäußert. Schwächt es Verdi in der Auseinandersetzung mit dem HDE nicht, wenn die Diskussion zu diesem Zeitpunkt öffentlich geführt wird?

Ganz im Gegenteil. In einer Demokratie muss es erlaubt sein, die Führung zu kritisieren. Selbst der Papst wurde kürzlich kritisiert, weil er einen Friedensvorschlag für den Krieg in der Ukraine gemacht hat. Kritik und Selbstkritik ist für die Stärkung einer Organisation, die Massen organisieren will, von zentraler Bedeutung. Wenn man Kritik und Selbstkritik unter den Teppich kehrt, wenn das nur noch hinter verschlossenen Türen in irgendwelchen Zirkeln stattfindet, dann gibt es keine Entwicklung, sondern Stillstand und Niedergang.

Orhan Akman hat bis Sommer 2022 die Verdi-Bundesfachgruppe für den Einzel- und Versandhandel geleitet. Dieses Interview hat er als Verdi-Mitglied gegeben und nicht als Vertreter der Gewerkschaft.

2 Wochen kostenlos testen

Die Grenzen in Europa wurden bereits 1999 durch militärische Gewalt verschoben. Heute wie damals berichtet die Tageszeitung junge Welt über Aufrüstung und mediales Kriegsgetrommel. Kriegstüchtigkeit wird zur neuen Normalität erklärt. Nicht mit uns!

Informieren Sie sich durch die junge Welt: Testen Sie für zwei Wochen die gedruckte Zeitung. Sie bekommen sie kostenlos in Ihren Briefkasten. Das Angebot endet automatisch und muss nicht abbestellt werden.

Ähnliche:

  • »Wir haben die Nase voll!«: Mick Whelan, Chef der Lokführergewer...
    01.03.2024

    Ein Schuss vor den Bug

    Britische Lokführer erneut im Ausstand. Bahnbetreiber verdreifachen Gewinne und verweigern Beschäftigten Inflationsausgleich
  • Immer mehr legen die Arbeit nieder: Die streikenden Amazon-Besch...
    18.10.2022

    Streik in aller Munde

    Beschäftigte von bisher nicht organisiertem Amazon-Verteilzentrum beteiligen sich an Arbeitsniederlegungen

Mehr aus: Wochenendbeilage