junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Montag, 29. April 2024, Nr. 100
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Ausgabe vom 23.03.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Etwas bauen übers Ich hinaus

Davide Ferrario widmet sich in einer Dokumentation der Bibliothek Umberto Ecos
Von Felix Bartels
11.jpeg
Auch wenn der Saal leer ist: »Die Bibliothek ist Symbol und Realität eines kollektiven Gedächtnisses«

Eins hatte der Generalfeldmarschall Hindenburg dem Romancier Eco voraus: sämtliche Bücher in seinem Besitz auch gelesen zu haben. Das waren genau zwei, die Bibel und das Exerzierreglement. Sagt er, sagt man. Geschriebene Geschichte weiß nicht alles. Das erste Erscheinen der Schrift, der Übergang von der oralen in die literale Gesellschaft, hat die Welt des Menschen stärker umgewälzt als jede andere Revolution (das lustigerweise weiß man erst, seit es geschrieben wurde, von Jack Goody nämlich). Mit dem Aufschreiben werden Gedanken nicht bloß festgehalten, vermöge bestimmter Wortwahl nämlich so und nicht anders, sie werden vom Urheber abgesondert. Verdinglicht an einem Material, das fortbesteht – Tontafeln: bald zerfallend, Papyrus: ein paar Jahrhunderte, Pergament: ein paar Jahrtausende, Papier: schon wieder weniger, digitale Datenträger: mal gucken. Durch die Absonderung kann der Gedanke dem Urheber später gegenübertreten, ist nicht mehr Tätigkeit, sondern Tat.

Umberto Eco hat diese Absonderungen, genannt Bücher, gesammelt. Exzessiv. Mit weidlich mehr als 30.000 Bänden brachte er eine Privatbibliothek zusammen, die von einer Person kaum mehr bewältigt werden konnte. Was Anlass zu Anekdoten gab. 1990 schrieb der Romancier in einer Glosse über seine Besucher. Die klassische Frage »Haben Sie die alle gelesen?« setzte ihn, dem man in Anspielung auf seinen Namen nachsagte, auf alles eine Antwort zu haben, außer Gefecht. Stellten die Fragenden sich ausschließlich Bücher ins Regal, die sie bereits gelesen hatten? Wussten sie nicht, dass eine Bibliothek ein Arbeitsmittel ist? Irgendwann ging Eco dazu über, mit »Nicht nur die!« zu antworten. Das habe seine Besucher verlässlich dazu gebracht, den Zeitpunkt des Abschieds vorzuverlegen. So hatten alle noch was vom Abend.

Es ist das Material, das die Sache zur Angelegenheit macht. Als Eco mit dem Büchersammeln begann, gab es noch keine Digitalisierung. Und schwer scheint vorstellbar, dass jemand beim Blick auf eine 20 Terabyte dicke Sammlung von Dokumenten die Frage stellt, ob der Besitzer der Festplatte das auch alles gelesen habe. Unterm Eindruck einer nicht eben kleinen Wohnung voller Regale, wändelang Bandrücken an Bandrücken, die teuerste Tapete der Welt, sagt mancher manches. Das Buch bleibt Mittel, wird aber auch Zweck. Man muss das nicht lieben, um es zu lieben. Die dumme Frage drückt ja nicht zuletzt aus, dass der Sache schon physisch ein Zauber innewohnt.

Deswegen und weil Kino vom Zeigen lebt, lohnt es sich, den Büchern Umberto Ecos einen Film zu widmen. »Eine Bibliothek der Welt« heißt der und hätte auch »Eine Welt der Bibliothek« heißen können. Ecos Erben gewährten Davide Ferrario nach dem Tod des Romanciers Zugang zur Büchersammlung. Ursprünglich sollte lediglich die Übergabe der Bibliothek an die Universität in Bologna dokumentiert werden, Ferrario tauchte ein ins Wunderland, verlor und fand sich dort. Entstanden ist ein bewegtes Schaubild ihres Besitzers, des versierten Erzählers, der in seinen Büchern stets auch über Bücher schrieb, des Semiotikers, dem Zeichen mehr als Zeichen waren, des Philosophen, der wie ein Schwamm das Weltwissen aufgesaugte, des Büchernarren, dem die Bibliothek gleichermaßen Tor zur und Tor für die Welt war, sublimiert zum Subjekt, gleich jener Opera aperta, für die er bekannt wurde. Als Erzähler war Eco ein besonderer Fall. Er scheint alles aus dem Kopf geholt zu haben. Seine Frau mahnte ihn mal, einen gemeinsamen Abend am Lagerfeuer zu genießen. Eco blieb Eco. Als sie später das Kapitel im »Namen der Rose« las, worin die Bibliothek des Klosters von den Flammen gefressen wird, fand sie es so anschaulich, dass sie sagte: »Du hast damals doch richtig hingesehen.« Ihr Mann entgegnete: »Nein, aber ich wusste, wie ein Mönch des Mittelalters den Brand würde gesehen haben.« Diese Kunst, zugleich ganz im Kopf und ganz in der Welt zu leben, ist – alle Verzerrungen konzediert, die das mit sich bringt – verkörpert im Büchersammeln.

2016 ging ein Video viral, das Eco von einem Ende seiner Bibliothek zum anderen laufend zeigt, um etwas nachzuschlagen. Diese Szene, Ferrario hat sie selbst gedreht, eröffnet nun den Film. »Die Bibliothek ist Symbol und Realität eines kollektiven Gedächtnisses«, sind die ersten Worte, sie werden gesprochen von Eco selbst. Dezent hinter dem Material verschwindend, auf eigenes Voice-over verzichtend, montiert Ferrario aktuelle und historische Aufnahmen, Interviewfetzen des Schriftstellers, der Familie und seines weiteren Umfelds, ebenfalls als Mischung aus Stock Footage und Ad-hoc-Aufnahmen. Gott, fährt Eco mit Bezug auf Dante fort, sei gewissermaßen die Bibliothek der Bibliotheken, die Welt also. Den zu spielen hatte der Autor wohl nicht vor, doch etwas bauen übers Ich hinaus schon. Als er in das Mailänder Haus zog, worin er die letzten 25 Jahre seines Lebens verbringen würde, war die Sammlung bereits bei einem Umfang von 30.000 Bänden. Seitdem wurde sie, beständig weiter wachsend, nicht mehr gezählt. Unter den neuzeitlichen Büchern befindet sich, räumlich separiert, ein Herzstück von 1.500 antiken Ausgaben. Deren Grundstock bilden kuriose und lunatische Bücher: Physiognomie, Magie, Alchimie, Okkultismus, Hermetik, Semiologie, Embleme, Hieroglyphen, Astronomie, Dämonologie, Esoterik, Animismus, Universalsprachen, Kabbala – kurz: das ganze Substrat des »Foucaultschen Pendels«, aus Zeiten aber, da Wissenschaft und Obskures noch nicht getrennt waren. Ecos Liebe fürs Randständige, für Dinge, die nicht zusammenpassen, auf verkreuzte Weise dann aber doch Einsicht in ein Ganzes geben (das aber nicht »das« Ganze sein muss), kommt in diesem separierten Raum zum besonderen Ausdruck.

Wie dieser Film überhaupt eine findige Sammlung unzähliger Äußerungen Ecos ist, die den Komplex des Buchs von der einen oder anderen Seite packen: vom Material, der Rezeption, dem Schreiben, dem Sammeln, der Bedeutung, dem Vergangenen, dem Künftigen. Und. So. Weiter. Regelrecht konträr dazu, zumal unter den schweren Klängen Carl Orffs, scheint der betulich-museale Wind, den die Verbliebenen um den gewachsenen Schatz machen. Doch vielleicht hätte dem Verstorbenen auch dieser Gegensatz gefallen.

»Umberto Eco: Eine Bibliothek der Welt«, Regie: Davide Ferrario, Italien 2022, 80 Min., bereits angelaufen

2 Wochen kostenlos testen

Die Grenzen in Europa wurden bereits 1999 durch militärische Gewalt verschoben. Heute wie damals berichtet die Tageszeitung junge Welt über Aufrüstung und mediales Kriegsgetrommel. Kriegstüchtigkeit wird zur neuen Normalität erklärt. Nicht mit uns!

Informieren Sie sich durch die junge Welt: Testen Sie für zwei Wochen die gedruckte Zeitung. Sie bekommen sie kostenlos in Ihren Briefkasten. Das Angebot endet automatisch und muss nicht abbestellt werden.

Mehr aus: Feuilleton