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Aus: Ausgabe vom 22.03.2024, Seite 11 / Feuilleton
Literatur

Falsch wird richtig

Eran Schaerfs beglückendes Buch »Gesammeltes Deutsch«
Von Stefan Ripplinger
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Gern im Zwiegespräch: Eran Schaerf

Es ist eine der Kühnheiten, von denen das Buch des Künstlers und Schriftstellers Eran Schaerf voll ist: Während jede Literaturinstitutsabsolventin verinnerlicht hat, dass eine Geschichte in der ersten oder in der dritten Person erzählt werden muss (und nur Michel Butor, der kein Literaturinstitut besuchte, in »Modification« 1957 die zweite wählte), beginnt er sein »Gesammeltes Deutsch« mit Infinitivkonstruktionen.

Mit diesem Kunstgriff vermeidet er nicht nur die grammatische, sondern überhaupt jede Standardperson: »Von einem Mann lesen, der einen ganzen Morgen lang in den schnurgeraden verlassenen Straßen von Terezín niemandem außer einem Entgeisterten in einem abgerissenen Anzug begegnet, der ihm zwischen den Linden des Brunnenparks in einer Art gestammeltem Deutsch wild fuchtelnd eine Geschichte erzählt.« Wer liest von dem Mann? Wir? – Das auch, aber vor allem liest ein Überleser, eine Überleserin in jedem Sinn des Wortes: »Das erste t im gestammelten Deutsch überlesen und ohne weiteres annehmen, dass der Mann die Geschichte in einer Art gesammeltem Deutsch erzählt.«

Das Deutsch, das Schaerf sammelt, ist dasjenige, das der Ankömmling in der Fremde, auch der »Assimilant« falsch versteht und dadurch nicht selten zurechtrückt. Was du missverstehst, hast du jedenfalls nicht geschluckt. Blicken die Wörter dich fragend an, hast du immerhin noch Fragen. In der ersten Geschichte geht es also um einen Stammelnden, Entgeisterten in Terezín, besser bekannt als Theresienstadt. Ein Text über eine Stadt mit T, dem ein »t« fehlt, könnte zu einem »ext«, kurz für »Exitus«, werden; im Theater ist das ein Abgang oder Ausgang, in der Medizin der Tod. Die »exis«, Jean-Paul Sartres Gegenbegriff zur Praxis, ist jedoch nicht gemeint. Denn das Sammeln von deutschen Brocken aus Zeitungen, Zeitschriften oder aus Folianten ist durchaus eine Praxis. So spielerisch sie erscheinen mag, wird sie von einer kategorialen Differenz angetrieben: der von Gedenken und Erinnern.

Erinnern gegen Gedenken

Gedacht kann dem werden, woran jemand keine Erinnerung hat. Schaerf kann des Umstands gedenken, dass seine Mutter in ihrer Zeit im KZ Buchenwald bei der Rüstungsfirma Hasag Zwangsarbeit leisten musste, er kann auch des Schicksals von Hans Gasparitsch gedenken, der als Kommunist erst unter den Nazis, dann von den Westdeutschen verfolgt wurde. Doch Erinnerungen kann er weder an das Leid der Mutter noch an das des Kommunisten haben.

Erinnerungen sind etwas Eigenes, Idiosynkratisches, ebendeshalb fahren sie dem Gedenken in die Parade, wenn es von der Nation, ob von der deutschen oder der israelischen, und ihrer »Staatspolitik der großen Gefühle« ausgebeutet wird: »Seitdem ich begriffen habe, dass es eine ganze Verwandtschaft von mir gibt, die ich nie kennenlernen und deshalb nie betrauern können werde, begriff ich auch, dass ich von dieser Politik emotional missbraucht werde. Serientätermäßig. Der Nationalstaat interessiert sich nicht für mein Gefühl des unbetrauerbaren Tods. Er braucht eine Trauer, die sich in den Dienst der Nation stellen lässt.«

Schaerf, der in Israel aufwuchs, verweigert den Dienst an der Nation, lehnt es ab, »auserwählt« zu sein, stellt sich lieber »zur Abwahl«, wird so zum säkularisierten, politischen Subjekt, das nicht mehr in die eigene Sache eingeschlossen ist wie in einen Kokon oder einen Kerker. Das erlaubt es ihm, den Widerspruch zwischen Gedenken und Erinnern auch an den Sinti und Roma zu erkennen, die 2018 in Berlin vor dem Denkmal für ihre ermordeten Vorfahren gegen Abschiebungen demonstrierten. Prompt ließ die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas die Demonstration räumen. Politische Demonstrationen störten »das Andenken«. Schaerf fragt: »Wessen Andenken?«

Der Historiker, der tadeln zu müssen glaubt, der Rosa Winkel, das Stigma der schwulen KZ-Häftlinge, sei von US-Aktivisten in der AIDS-Krise falsch herum dargestellt worden, wird von Schaerf lässig abgewiesen: »Wenn es aber darum geht, die Sequenz der Diskriminierung von Homosexuellen durch die NS-Politik und durch die Reagan-Regierung als offen, das heißt, als fortdauernd zu zeigen, ist falsch richtig.« Schaerf fordert uns auf, die große Geschichte den Staatsdienern zu überlassen. Sein Erkenntnisinteresse beginnt da, wo Geschichte auf verstörende Weise kein Ende findet und ihre Bedeutung zur »Gemeinschaftsproduktion« wird. So zeigt sich positivistische Wahrheit als Halbwahrheit, wenn nicht Lüge, und aus Erinnerungsmontagen entsteht eine eigene, wenn auch situative Wahrheit, es ist immer eine politische.

Nationalhymne verpennt

Dass Schaerf eine Fülle von hebräischen Quellen einbezieht und ohnehin ungeheuer belesen ist, bereichert die Kenntnis selbst der mit dem Themenkreis Israel Vertrauten. Aber die jüdische und israelische Geschichte ist hier immer nur Ausgangspunkt einer universalistischen. Zu den Höhepunkten unter den beglückenden Texten des Bandes gehört die Geschichte von der Familie Suleiman, die vor dem Fernseher eingenickt ist und so bei Sendeschluss die israelische Nationalhymne verpasst, die sich aber ohnehin nur an Staatsangehörige mit »jüdischer Seele« richtet. In seiner lapidaren Eleganz erinnert dieser Text an die Prosaminiaturen Uwe Nettelbecks.

Schaerf schreibt niemals aus der bornierten Ich-Perspektive, aber begibt sich gern ins Zwiegespräch mit sich selbst (nun tatsächlich in Butors zweiter Person), mit einem Jakow oder mit Franz (Werfel), der ihn daran erinnert, Hannah Arendt sei nicht das Pelzcape, das von ihr im Deutschen Historischen Museum präsentiert wird. In einem atemberaubenden Essay demonstriert er den Unterschied zwischen fixem Gedenken und mobilem Erinnern an Denkmalen und an einer Modekollektion von Comme des Garçons, die manche an KZ-Kluft erinnert. Da wer versteht, zustimmt, zieht es Eran Schaerf vor, das eine verkehrt, das andere anders zu verstehen.

Eran Schaerf: Gesammeltes Deutsch. Transversal Texts, Wien u. a. 2023, 178 Seiten, 12 Euro

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