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Aus: Ausgabe vom 20.03.2024, Seite 6 / Ausland
Gazakrieg

Biden gegen Rafah-Offensive

US-Regierung lehnt Vorrücken auf Südgaza ab. Zionistischer Hardliner im US-Senat polarisiert mit Forderung nach Neuwahlen in Israel
Von Knut Mellenthin
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Joseph Biden und Charles »Chuck« Schumer geben sich besorgt (Washington, 2.3.2023)

Die US-Regierung hat dem israelischen Plan einer Bodenoffensive gegen die Stadt Rafah im Süden des Gazastreifens zum ersten Mal eine öffentliche Absage erteilt. In einem Telefongespräch sagte Präsident Joseph Biden dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu am Montag, es gebe alternative Möglichkeiten, »Kernbestandteile der Hamas« in diesem Raum auch ohne größere Militäroperationen auszuschalten. Biden lud Netanjahu ein, in nächster Zeit ein Team von Fachleuten nach Washington zu schicken, um dieses Thema zu diskutieren. Israels Regierungschef soll, vermutlich zähneknirschend, zugestimmt haben.

Bidens Nationaler Sicherheitsberater Jacob Sullivan erläuterte etwas später in einer ungewöhnlich freimütigen und informativen Pressekonferenz die drei wichtigsten Gründe der US-Regierung für die Ablehnung der geplanten Bodenoffensive:

Erstens seien in Rafah mehr als eine Million Menschen zusammengedrängt, von denen viele schon mindestens einmal durch die israelischen Streitkräfte aus ihrer Wohngegend vertrieben worden seien. Es gebe keine Plätze, wo diese Menschen sich hinbegeben könnten, da der Gazastreifen schon weitgehend zerstört sei. Israel habe der US-Regierung trotz mehrfacher Aufforderung bis jetzt keinen Plan für eine sichere Evakuierung, Unterbringung und Versorgung der in Rafah zusammengetriebenen Bevölkerung vorgelegt.

Zweitens sei Rafah der Hauptzugang, durch den humanitäre Hilfslieferungen aus Ägypten und Israel in den Gazastreifen gelangen. Es gehe nicht an, diesen Zugang durch Militäroperationen am Boden zu schließen oder schweren Beeinträchtigungen auszusetzen, »genau in dem Moment, wo er am bittersten benötigt wird«.

Drittens liegt Rafah direkt an der Grenze zu Ägypten, das sich »tief alarmiert« über die Folgen einer großen Bodenoffensive in diesem Gebiet geäußert habe und sogar die Frage nach seinen zukünftigen Beziehungen zu Israel stelle.

Während der Pressekonferenz wurde Sullivan auf die jüngsten Äußerungen des Mehrheitsführers im US-Senat, Charles Schumer, angesprochen, die von Netanjahu und vielen anderen israelischen Politikern als angeblich unstatthafte »Einmischung« in innere Angelegenheiten des zionistischen Staates heftig verurteilt werden. Sarkastisch, aber inhaltlich zutreffend erwiderte Sullivan: »Wir reden nicht annähernd so viel in ihre Politik hinein wie sie in unsere.« Selbst israelische Medien erinnern in diesem Zusammenhang an die offene Unterstützung Netanjahus für den republikanischen Präsidentschaftskandidaten Mitt Romney gegen den Amtsinhaber Barack Obama im Jahre 2012 und an Netanjahus Rede im US-Kongress am 3. März 2015, zu der ihn der republikanische Mehrheitsführer im Senat, Mitchell McConnell, eingeladen hatte. Der israelische Regierungschef hielt, permanent von Standing Ovations umjubelt, eine flammende Rede gegen das von Obama angestrebte Atomabkommen mit dem Iran.

Schumer hat die höchste Position inne, in die in den USA jemals ein Jude gewählt wurde. Am Donnerstag warnte er in einer langen persönlichen Rede vor der immer mehr zur Realität werdenden internationalen Isolierung Israels und warf Netanjahu vor, er habe »sich verrannt, indem er zuließ, dass sein politisches Überleben die Oberhand über die besten Interessen Israels gewann«. Schumer glaube, dass Neuwahlen, »sobald der Krieg abzuflauen beginnt«, der einzige Weg seien, »der einen gesunden und offenen Entscheidungsprozess über Israels Zukunft erlaubt, zu einem Zeitpunkt, wo so viele Israelis das Vertrauen in die Vision und Richtung ihrer Regierung verloren haben«. Tatsächlich vertrauen laut einer Umfrage, deren Ergebnisse in der vorigen Woche veröffentlicht wurden, nur noch 23 Prozent der Israelis Netanjahus Regierung.

Schumer hat sich seit mindestens 30 Jahren einen Namen als zuverlässiger Verfechter aller vermeintlichen israelischen Interessen gemacht. Es ist nicht wahrscheinlich, dass man in dieser langen Zeit kritische Äußerungen Schumers zur israelischen Regierungspolitik finden wird. In zentralen Fragen, wie der radikalen Ablehnung des Atomvertrags mit dem Iran und als ein Vorreiter der Gesetzgebung gegen »Boycott, Divestment and Sanctions« (BDS), hat er sich im Gegenteil als Hardliner profiliert. Vier Tage vorher war der Senator auf der Jahreskonferenz der Pro-Israel-Lobby AIPAC mit rauschendem Beifall für seine Aussage belohnt worden, solange die Hamas nicht vernichtet sei, könne über einen palästinensischen Staat nicht einmal diskutiert werden.

Um so erschreckender und zugleich bezeichnend ist die Kakophonie feindseliger Polemiken, die nach Schumers Rede im Senat über ihn hereinbrach. Den Preis für die infamste Reaktion holte sich eindeutig der Chef der Republican Jewish Coalition, Matthew Brooks, der dem Senator einen »Dolchstoß in den Rücken Israels« vorwarf. Die RJC, eine US-amerikanische Organisation mit Tausenden von Mitgliedern und 47 Orts- oder Regionalgruppen, stellt sich auf ihrer Website als »einzigartige Brücke zwischen der jüdischen Gemeinschaft« und gewählten republikanischen Politikern auf allen Ebenen vor.

Im Mittelpunkt der israelischen Reaktionen auf Schumers Rede, die auch von vielen führenden Vertretern der Opposition gegen Netanjahu mitgetragen wurden, stand etwas, was der Senator überhaupt nicht bestritten hatte: Israel treffe seine Entscheidungen selbst und lasse sich von niemand Vorschriften machen. Man sei schließlich »keine Bananenrepublik«, entrüsteten sich Netanjahu und sein politischer Gegner Naftali Bennett wortgleich. Dass die USA ihrem Verbündeten Israel »nichts diktieren« könnten und wollten, hatte Schumer selbst aber schon gesagt und alle zentralen Aussagen seiner Rede betont vorsichtig mit »ich glaube« eingeleitet.

In Wirklichkeit geht es offenbar darum, dass nicht nur Netanjahu, sondern ein großer Teil der »politischen Klasse« Israels es ablehnt, selbst mit langjährigen Freunden und treuesten Verbündeten einen gleichberechtigten, offenen Dialog über den künftigen Weg des Landes zu führen.

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