Letzte Hoffnung Holperstart
Von Ralf WurzbacherJubiläum – schon wieder! Diesmal ist es die 700. Montagsdemonstration gegen »Stuttgart 21«. Bald 15 Jahre nach der ersten, am 26. Oktober 2009, werden sich wie gewohnt Dutzende, vielleicht Hunderte Menschen vor dem »geschundenen Hauptbahnhof« versammeln, um Deutschlands irrsinnigstes Bahnprojekt in die Wüste zu schicken. Geladene Redner bei der »Volkshochschule unter freiem Himmel« sind der Geschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe (DUH), Jürgen Resch, Theaterregisseur Volker Lösch sowie die Klimaaktivistin und EU-Kandidatin der Linken Carola Rackete, wie das Organisationsbündnis vorab bekanntgab. Auch diesmal werde es um »Grundsäztliches« gehen, heißt es in der Ankündigung, »nicht nur um einen Bahnhof«, sondern um »Demokratie, Recht auf Stadt, Verkehrswende und Klima«.
Die Verantwortlichen haben fürwahr andere Sorgen. Bereits fünf Jahre in Verzug droht nun auch der nächste Eröffnungstermin zu platzen, wodurch die bereits auf über elf Milliarden Euro veranschlagten Kosten weiter ausufern dürften. Offiziell will die Deutsche Bahn (DB) den Tiefbahnhof samt Zuläufen Ende nächsten Jahres in Betrieb nehmen. Wegen Bauverzögerungen und Problemen mit der digitalen Sicherungstechnik erscheint das jedoch ziemlich ambitioniert beziehungsweise wie Augenwischerei. Längst wird über einen Start in mehreren Etappen debattiert. Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann (Bündnis 90/Die Grüne) stellt sich das so vor: Man könne zunächst »mit dem Erproben und Üben« anfangen, »und wenn es dann sitzt, macht man erst den Wechsel und nicht vorher«, sagte er vergangene Woche zu dpa.
Nach diesem Szenario müssten die meisten Passagiere noch auf längere Sicht im oberirdischen Kopfbahnhof zu- und aussteigen, während lediglich einige wenige Züge den neuen unterirdischen Bahnhof ansteuern könnten. Eine solche Kombiversion hatte im Sommer 2011 der inzwischen verstorbene Heiner Geißler als Kompromissvorschlag in die damals laufenden Schlichtungsgespräche eingebracht. Die Idee wurde von den Entscheidern umgehend verworfen – jetzt könnte sie als Notnagel doch noch Wirklichkeit werden. Immerhin Hermanns Chef und Parteifreund, Ministerpräsident Winfried Kretschmann, macht aus dem Desaster keinen Hehl. »Ohne Holpern« werde die Einführungsphase nicht abgehen, beschied er am Dienstag in der Landespressekonferenz. »Die Frage ist nur, wer holpert wie lange und wie stark.« Viele Bedenken der »S-21«-Gegner hätten sich mittlerweile bewahrheitet, räumte er ein, und viel sei unternommen worden, die Defizite zu beheben. Beispielhaft nannte Kretschmann die »Große Wendlinger Kurve«, die ein besseres Auf- und Abfahren von und nach Tübingen auf die Schnellbahntrasse nach Stuttgart/Ulm ermögliche.
Eine Behelfslösung ist auch das European Train Control System (ETCS). Der Tiefbahnhof wird bekanntlich deutlich geringere Kapazitäten als der alte über Tage haben, weshalb man die materiellen Engpässe mittels besagtem elektronischen Zugleitsystem kompensieren will. Allerdings macht die Technik immer wieder Zicken, die Zugausfälle und unsinnige Umleitungen provozieren. Auch vor diesen Hintergrund hatte im Dezember DB-Infrastrukturvorstand Berthold Huber von einer »sehr angespannten« Terminlage gesprochen.
Gleichwohl versicherte der Staatskonzern bis zuletzt, die Zeitvorgaben halten zu können. In dieser Woche will der Aufsichtsrat darüber beraten, wie das zu schaffen sein soll. Natürlich steht die Bundesregierung in puncto Volksverdummung nicht zurück. Am Mittwoch befasste sich der Verkehrsausschuss des Bundestags auf Antrag des Linke-Abgeordneten Bernd Riexinger mit dem Thema. Der Tenor der Einlassungen des Verkehrsministeriums: Alles läuft nach Plan, Dezember 2025 geht es los – also irgendwie, denn »für die komplexeste Inbetriebnahme eines neuen Eisenbahnknotens der vergangenen Jahrzehnte mit deutschlandweiten Auswirkungen sei nun im Detail festzulegen, in welcher Abfolge die verschiedenen neu gebauten Infrastrukturteile von Stuttgart 21 in Abstimmung mit den Fahrzeugflotten in Funktion gehen«. Laut Riexinger verdeutlicht dies einmal mehr, dass die Ampel das Projekt »im Blindflug begleitet«. Oder anders: 800 Montagsdemos sind allemal drin.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (18. März 2024 um 22:02 Uhr)»Digitale Sicherheitstechnik« heißt, sie funktioniert, oder sie funktioniert nicht (1 oder 0). Ob sie funktioniert hat, wissen wir hinterher. Was ist denn mit den Löschwasserleitungen in den Tunnel? Die sollten ursprünglich als Trockenleitung geführt werden. Das Löschwasser hätte dann zehn oder zwanzig Minuten bis zur Brandstelle gebraucht.
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