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Aus: Ausgabe vom 16.03.2024, Seite 15 / Geschichte
Zweiter Weltkrieg

Ende der Schaukelpolitik

»Unternehmen Margarethe«. Vor 80 Jahren besetzte die deutsche Wehrmacht das Territorium des Verbündeten Ungarn
Von Christian Stappenbeck
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Lange Zeit verbündet: Miklós Horthy und Adolf Hitler in Danzig (1944)

In der Geschichtspolitik der gegenwärtigen Budapester Regierung, die den einstigen Reichsverweser Miklós Horthy verehrt, spielt der März 1944 eine besondere Rolle: Derso heißt es, bilde den Ausgangspunkt einer Periode, in der Ungarn besetzt, also nicht mehr es selbst war. Diese Periode habe 46 Jahre gedauert, bis zum Mai 1990. Diese Geschichtsdeutung hat die regierende Fidesz-Partei in die Präambel ihrer neu formulierten Verfassung 2011 hineingeschrieben. Somit gilt die Zeit des demokratischen Aufbruchs 1945, der Bodenreform, der Säkularisierung, der Bildungschancen für Arbeiter- und Bauernkinder, des beeindruckenden Wiederaufbaus der Hauptstadt bereits als Zeit totalitärer Fremdbestimmung und nicht als Teil der nationalen Geschichte. Eine Art von Exorzismus soll jede positive Erinnerung an ein alternatives Gesellschaftsmodell löschen.

Wie sah Ungarn unter dem seit 1920 amtierenden Reichsverweser tatsächlich aus? Das Ungarn zwischen den Weltkriegen war ein autoritärer, halbfeudaler Ständestaat, mit konservativ-liberalen Modernisierungserfolgen in Wirtschaft und Wissenschaft. In ihm dominierte die alte adlige Magnatenschicht (Latifundienbesitzer), mehr und mehr verflochten mit einem Dutzend reich gewordener Familien aus Industrie und Hochfinanz. Ein restriktives Wahlrecht schloss die unteren Klassen von politischer Teilhabe aus. Drei Millionen Einwohner galten als bettelarm. Eine »gezähmte« sozialdemokratische Partei war zugelassen, unter der Bedingung, dass sie auf die Agitation unter den, die Mehrheit der Landbevölkerung bildenden, Landarbeitern verzichtet. Das Regime war kein faschistisches, es lehnte sich jedoch an die faschistischen Achsenmächte mehr und mehr an. Beweggrund dafür war der territoriale Revisionismus, nämlich das Streben nach den historischen Vorkriegsgrenzen. »Rumpf-Ungarn ist gar kein Reich, Großungarn das Himmelreich«, wurde skandiert.

Bündnis mit Hitler

Dem Staatsoberhaupt Admiral Horthy muss man eines zugute halten: Er hatte die Rückkehr der Habsburger auf den Thron verhindert. Unter dem Druck der Siegermächte hatte er ein Minimum an bürgerlich-demokratischen Standards zugelassen. Im übrigen hinterließ er nach einem Vierteljahrhundert Regentschaft – einen Scherbenhaufen, der schlimmer nicht sein konnte. Kurz davor aber, in den Jahren 1938 bis 1941, erlangte Horthy nach vier Gebietserweiterungen den Gipfelpunkt seiner Popularität als »Gyarapító«, Vergrößerer des Territoriums mit Hilfe Italiens und Deutschlands. Die Gegenleistung bestand darin, dass Ungarn der Achse Berlin-Rom-Tokio beitrat und am Aggressionskrieg gegen Jugoslawien und die Sowjetunion teilnahm. Letzteres mit ungutem Gefühl, das sich vollkommen bewahrheiten sollte. Spätestens nach der vernichtenden Niederlage der ungarischen 2. Armee am Don-Knie Anfang 1943 wurde den Führern Ungarns klar, dass sie auf das falsche Pferd gesetzt hatten. Sie begannen ein doppeltes Spiel, die Schaukelpolitik. Bei den Westalliierten erkundeten sie insgeheim die Möglichkeit des »Absprungs« (leider nicht so geheim, dass es den Deutschen verborgen geblieben wäre) und versicherten, den Kriegseinsatz ab sofort gering zu halten. Die Rote Armee stand bereits 200 Kilometer vor der ungarischen Ostgrenze. Die Antihitlerkoalition hatte längst klargemacht, dass an der bedingungslosen Kapitulation kein Weg vorbeiführe, dennoch machte man sich in Budapest noch Illusionen. »Unser Rückzug aus dem Krieg«, meinte Horthy naiv, »muss mit dem Einverständnis der Deutschen geschehen«.

Aber diese dachten gar nicht daran, einverstanden zu sein. Mitte März 1944 lagen die Pläne für eine Okkupation des unzuverlässigen Verbündeten vor. Horthy wurde zu Hitler nach Salzburg geladen und mit Vorwürfen über die Treulosigkeit der Madjaren überschüttet: Ungarn würde den Kampf gegen den Bolschewismus behindern, ja Verrat üben. Der Reichsverweser mimte den beleidigten Ehrenmann. Am Ende stimmte er einer Besetzung Ungarns und der Umbildung seiner Regierung zu. Nominell durfte er Staatsoberhaupt und Oberbefehlshaber bleiben.

Willige Helfer

Am 19. März um 4 Uhr begann das »Unternehmen Margarethe«, so der Deckname für Ungarns Besetzung. Im Gefolge der deutschen Divisionen erschien Adolf Eichmann, der »Judenreferent« des Berliner Gestapohauptquartiers, und begann zügig mit der räuberischen Enteignung und mörderischen Deportation der jüdischen Ungarn. So »arisierte« man die Bergwerke des Unternehmers Ferenc Chorin und die Stahl- und Metallwerke von Manfréd Weiss von Csepel zugunsten Deutschlands. Ungarns Bauxitvorkommen galten als kriegswichtig. Sein Rüstungssektor, Arbeitskräfte und Devisenbestände wurden für die großdeutsche Kriegführung mobilisiert, die Gewerkschaften gleichgeschaltet, die Presse der liberalen Parteien verboten. Eine Widerstandsgruppe von ein paar hundert Kommunisten, die mit dem Namen »Friedenspartei« unter Führung des Mechanikers János Csermanek alias Kádár im Untergrund wirkte, verteilte weiterhin Flugblätter. Die Gendarmerie erwies sich bei allen Aktionen und Exzessen gegen Linke und Juden als eifriger Helfer der Besatzer.

Der Rest ist schnell berichtet. Die Horthy-Gruppe streckte ihre Fühler erneut nach Westen aus, jetzt aber außerdem nach Moskau. Im Oktober, als die Sowjettruppen bereits bei Debrecen standen, verkündete der Reichsverweser und Oberbefehlshaber über Radio den »Absprung«, den Waffenstillstand für seine Armee, was militärisch miserabel vorbereitet war (er ging von der Loyalität aller seiner Militärs aus und hielt es nicht für nötig, die Arbeiter zu bewaffnen). Binnen Stunden hatten SS-Truppen die Herrschaft über Budapest und den Burgpalast übernommen, Horthy verhaftet und dazu erpresst, seine restliche Macht dem Chef der faschistischen Pfeilkreuzler-Partei, Ferenc Szálasi, zu übergeben. Der errichtete im verbliebenen Landesgebiet eine wahnwitzige fünfmonatige Terrorherrschaft. An deren Ende war Budapest weithin ein Trümmerfeld. All dies war möglich geworden, weil die Stützen des Ständestaates Ungarn teils aus Schwäche, teils aus fanatischer Überzeugung zu willigen Helfern Großdeutschlands geworden waren.

Vorsorglich organisierten die Pfeilkreuzler im März 1945 einen Güterzug mit 46 Waggons, den legendären Goldzug, beladen mit geraubten Juwelen, Teppichen, Schmuck, Bargeld, Sakral- und Wertgegenständen, darunter auch die heilige ungarische Stephanskrone. Der Zug kam, unterwegs um einige der Werte erleichtert, schließlich in der amerikanischen Besatzungszone an.

Kein Widerstand

Die einmarschierenden deutschen Truppen trafen also auf keinen Widerstand. (…) Im Laufe von wenigen Stunden war das Land mit seinen damals 14 Millionen Einwohnern und fast einer halben Million Soldaten aus der Reihe der selbständigen Staaten gestrichen. Und ein Großteil der Armee, mit dem Vizegeneralstabschef an der Spitze, stellte sich den Deutschen zur Verfügung. (…) An die Auslösung eines Volkswiderstandes dachte niemand, denn dazu waren keinerlei Vorbereitungen getroffen worden. In den Morgenstunden verhallten lediglich in einem Haus am Attila-Ring einige Schüsse. Endre Bajcsy-Zsilinszky (konservativer hitlerfeindlicher Politiker, ermordet im Dezember 1944) empfing die Leute der Gestapo mit Revolverschüssen. (… ) Obwohl die kleinen Fahrzeuge der Gestapo pausenlos immer neue Gefangene abtransportierten, und vor allem Juden massenhaft verhaftet wurden, fand Heinrich Himmler, der sich gegen Mittag nach dem Gang der Aktion erkundigte, die Zahl der Inhaftierten zu gering. (…) Erwarteten die Linken Kerker und Konzentrationslager, so harrten die Rechten auf Ministersitze. Die Vertreter der extremen Rechten hatten diesen Tag seit langem erwartet. Den Beauftragten Hitlers erklärte Miklós Horthy: Er wolle zusammen mit den deutschen Truppen den Bolschewismus schlagen helfen und wäre bereit, alle verfügbaren Kräfte zu mobilisieren unter der Voraussetzung, dass die ungarische Wehrmacht im Sinne der traditionellen Waffenbrüderschaft behandelt werde.

György Ránki: Unternehmen Margarethe (Magyarország német ­megszállása; Die deutsche Besetzung Ungarns), Budapest/Wien 1984, S. 161 ff.

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (16. März 2024 um 15:07 Uhr)
    Ungarn zwischen den Weltkriegen war kein demokratisches Paradies, sondern ein autoritärer Ständestaat, der von einer adligen Elite und einer Handvoll Industrieller dominiert wurde. Politische Teilhabe war stark eingeschränkt, und Millionen lebten in Armut. Horthy selbst flirtete zwar mit faschistischen Ideen und suchte Allianzen mit Hitler, aber er hielt einen gewissen Grad bürgerlich-demokratischer Standards aufrecht und verhinderte die Rückkehr der Habsburger. Als Hitler jedoch Ungarn beschuldigte, den Krieg gegen den Bolschewismus zu behindern, gab Horthy nach und stimmte der Besetzung zu. Der Beginn des »Unternehmens Margarethe« markierte einen düsteren Wendepunkt. Adolf Eichmanns Einmischung zur Enteignung und Deportation der jüdischen Bevölkerung war besonders grausam, während die ungarische Gendarmerie bereitwillig mit den Besatzern zusammenarbeitete. Horthy versuchte später, sich von Hitler loszusagen, aber sein »Absprung« war naiv und schlecht vorbereitet. Die Machtübernahme durch die Pfeilkreuzler und die damit verbundene Terrorherrschaft hinterließen Budapest als Trümmerfeld. Die Besetzung Ungarns im März 1944 war nicht nur ein Akt äußerer Aggression, sondern auch ein Moment innerer Kapitulation. Eine Bevölkerung, die von Jahren autoritärer Führung geprägt war, bot keinen Widerstand, und politische Opportunisten suchten ihr Glück in der Zusammenarbeit mit den Besatzern. Die Lehren aus dieser düsteren Periode der ungarischen Geschichte sollten nicht vergessen werden. Sie erinnern uns daran, wie schnell autoritäre Regime die Freiheit eines Landes untergraben können, wenn keine starken demokratischen Institutionen und ein Bewusstsein für die Werte der Demokratie vorhanden sind.

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