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Aus: Ausgabe vom 16.03.2024, Seite 11 / Feuilleton
Lyrik

»Wie ein Wurm auf Erden«

Schwarz, grimmig, komisch, elegant: Die Gedichte von Jude Stéfan
Von Stefan Ripplinger
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Alexej von Jawlensky: »Poträt eines Mädchens« (1909)

Müssen wir erst das Leben des Dichters kennen, um ihn zu lesen, lohnt in der Regel die Lektüre nicht. Das verlangt Jude Stéfan (1930–2020) nicht von uns. Seine Gedichte, von denen Hans Raimund im letzten Jahr eine erste Auswahl in deutscher Übersetzung vorgelegt hat, sind lesbar, ohne das Geringste über des Dichters Leben zu wissen. Allein, der Versuchung, auch etwas aus diesem Leben mitzuteilen, ist schwer zu widerstehen, gerade, weil es so öde war wie nur selten eines.

Stéfan, der dank der Vermittlung des größten Literaturtheoretikers Frankreichs, Maurice Blanchot, schon früh zum Verlag Gallimard stieß, war im Brotberuf Lehrer für alte Sprachen, Philosophie und Sport. An ein Curriculum scheint er sich nicht gehalten zu haben. Als ihn ein Schüler fragte, was in der nächsten Stunde drankommt, antwortete er ihm: »Vielleicht ein wenig Russisch. Oder das Kreuzworträtsel aus Le Monde.« Spaß hat ihm das nicht gemacht, vielmehr wartete er mit der Klasse ungeduldig darauf, dass es zur Pause klingelt.

Gelebt hat er, bevor er, drei Jahre vor seinem Tod, ins Altenheim kam, in dem schäbigen Häuschen seiner Eltern im normannischen Orbec. Wie viele literarische Winkelexistenzen, so die von ihm verehrten Thomas Bernhard und Arno Schmidt, hasste er sein Leben. Er setzte alle Hoffnung auf den Selbstmord, doch auch solche Hoffnungen vergehen. Das wäre kaum der Rede wert, hätte des Dichters Hass auf die Welt nicht auch sein Werk geformt. Sein Hass galt zuerst und vor allem der eigenen kleinbürgerlichen Klasse, der er nicht entkam. Er war ein Lehrer, der nicht lehren wollte, und ein Schreiber, der nicht ruhmvoll sterben konnte.

Mit Catull und Rimbaud

Wie er sich einmal scherzhaft einen »Stalinisten« nannte, aus Ekel vor dem servilen Eifer, mit dem sich die Wendehälse seiner Generation von ihrem einstigen Kommunismus distanzierten, so blieb er, aus Trotz, auch dann noch klassisch-modern, nachdem in den 1970ern Empfindsamkeit und Traditionalismus fröhliche Urständ feierten. Das Neue, das formal Gewagte, und das Alte, gerade das Abgetane, dienen bei ihm demselben Zweck: der Welt zu widersprechen. Typisch für ihn ist – wie Raimund im Nachwort schreibt – »die Verwendung eines mittelalterlichen oder noch älteren Wortbestandes«. Typisch sind aber auch ungewöhnliche Kreuzungen von Poesie und Prosa. Typisch ist, dass er zugleich fliehen und sich stellen will. Mit seinem geliebten Catull hätte er seine Zeit fragen können: »Welcher Wahnsinn treibt dich, / So gradaus in die Jamben mir zu laufen?« (Übersetzung Max Brod) Wenn es jemals einen Dichter gab, der sich zugleich auf ­Catull und auf Arthur Rimbaud berufen durfte, dann war es Stéfan.

Das Scharnier zwischen Leben und Werk ist das gedrechselte Pseudonym. Jude Stéfan, als Jacques Dufour geboren, verweist mit seinem Vornamen auf »Jude the Obscure« (Juda der Unberühmte), den Roman von Thomas Hardy. Der Verräter Judas und der Apostel Judas Thaddäus, Schutzpatron der Verzweifelten, sitzen selbstverständlich mit im Boot. »Stéfan« ist nicht nur eine Reverenz an ­Stéphane Mallarmé, sondern auch an Stephen Dedalus, James Joyces Märtyrer, außerdem bedeutet »steorfan« im Altenglischen »sterben«. Namen sind Grabmale. Im Gespräch mit Tristan Hordé (2005) sagte Stéfan: »Ich war von Beginn an tot.«

In seinen Gedichten hält er die Mitte zwischen Tagesrest und nächtlich-herbem Urteil. Er wird selten konkret, versucht gar nicht erst zu beschreiben, aber hebt, auch wenn es ihn mitunter heftig dahin zieht, nie ins rein Moralisch-Philosophische ab. Eros und Thanatos lässt er wie Zähne eines Reißverschlusses ineinander greifen: »Vor Überdruss bin ich gestorben das ganze Leben lang / vor Liebe eines Tages tief im Wald / auf dem feuchten Mund einer Sterblichen / ich verging vor Schmerz unter verzückten Himmeln / beim Verlust der Unschuld und der Scham / durch das Grauen wie ein Wurm auf Erden«.

Säure des Verdrusses

Was in den Sechzigern sich kompakt darbietet, wird ab den späten Siebzigern rhythmisch und syntaktisch gerüttelt und geschüttelt. Stéfan ändert zwar weder Zeilenlänge noch Themenkreis, aber trägt womöglich noch mehr Schwarz als zuvor auf, »in einer Traurigkeit Virginia Woolfs / in den Weindünsten gestreift / von blinden Vögeln nachts / auf der Fähre«. In die Schwärze mischt sich mitunter eine fast perverse Zärtlichkeit: »wie ein Samurai mit unbewegtem Herzen an / der Tür des Schranks erwartet mich die Ratte / tot und fett / das Aug rege / die lang sich in den Giebeln hat getummelt«.

Stéfan wird mit den Jahren immer eindringlicher. Und wenn man sich etwas hätte wünschen dürfen, dann, dass Raimund für seine Auswahl auch spätere Gedichtbände berücksichtigt ­hätte, etwa die »Prosopées« (1995) – der Neologismus bedeutet eine Verbindung von Prosa und Poesie –, denen der Dichter als Motto eine Notiz von Bertolt Brecht voranstellte: »Während das Gras wächst, stirbt der Gaul.« An seinen späten Sachen hat, nicht zu ihrem Nachteil, die Säure des Verdrusses gefressen. Und hin und wieder könnte man meinen, das unlyrische Ich betrachte sich bereits von jenseits des Grabes: »Er starb durch Atemstillstand / nachdem er gut geschissen und geraucht und / seine Etymologien gelesen hatte« (meine Übersetzung).

Hans Raimund gesteht, er finde seine Versionen in Teilen fragwürdig, das liege aber daran, dass sich im Original »Rätselhaftes, Sperriges, ja auch unangenehm Schwülstiges und Unverständliches« finde, das er nicht habe glätten wollen. Nun ja, wenn sich ­Catull und Rimbaud über Lust und Tod unterhalten, wird das keine gefällige Plauderei ergeben. Um seiner Zeit, seinen Zeitgenossen zu missfallen, war Jude Stéfan alles recht: Ablenkungen, Störungen und Verblendungen. Der erste Blick in dieses widerborstige Werk weckt das Verlangen nach mehr.

Jude Stéfan: Mit dem Gleichmut eines Schwans, der sich den Hals flöht. Gedichte und Prosa. Aus dem Französischen von Hans Raimund. Löcker, Wien 2023, 106 Seiten, 19,80 Euro

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