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Aus: Ausgabe vom 16.03.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Willkommen, Anna

Willkommen, Anna. Ein Abend in der mexikanischen Botschaft über das Exilwerk von Anna Seghers
Von Sabine Lueken
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»Ich verdanke diesem Land unsäglich viel, soviel, wie ein Kind seiner guten Pflegemutter zu danken hat.« – Anna Seghers

Neue Perspektiven auf Anna Seghers versprach eine Veranstaltung Ende Februar im imposant-modernen mexikanischen Botschaftsgebäude in Berlin-Tiergarten, mit dem »Mexiko seine einzigartige Stellung in Lateinamerika auch architektonisch zum Ausdruck« bringe, wie der Moderator Peter B. Schumann gleich zu Beginn sagte. Neu sind auf jeden Fall die in modernes mexikanisches Spanisch übersetzten Exilwerke Anna Seghers: »Tránsito« und »La séptima cruz« – erschienen 2021 und 2023 beim mexikanischen Verlag La Cifra in Zusammenarbeit mit Elefanta Editorial. Die ersten Übersetzungen dieser Romane ins Spanische waren 1943 und 1944 erschienen und stammten von spanischen Exilierten. Sie seien zuletzt in Mexiko wenig bekannt und kaum zugänglich gewesen, erzählte Neuübersetzerin Claudia Cabrera. Zudem weise das spanische Spanisch von 1940 große Unterschiede auf zum mexikanischen Spanisch von 2020. Sie wollte die Romane wieder in die literarische Öffentlichkeit Mexikos und in den dortigen Literaturkanon zurückbringen. Zur Zeit übersetzt Cabrera die Erzählung »Der Ausflug der toten Mädchen« (1944), mit der sich Seghers nach dem schweren Unfall, bei dem sie in Mexiko City von einem Auto überfahren wurde, ins Leben zurückschrieb.

Neben Cabrera saßen am 26. Februar 2024 zwei weitere Expertinnen auf dem Podium und versuchten, die Fragen des in großem Hut und Mantel herbeigeeilten Peter B. Schumann zu beantworten. Gabriele Radecke, Leiterin des Literaturarchivs der Akademie der Künste, stellte Dokumente und Fotos aus Seghers’ Nachlass vor und warb für den Besuch der original erhaltenen Wohn- und Arbeitsräume der Schriftstellerin in Berlin-Adlershof, die auch ihre Bibliothek mit 10.000 Bänden beherbergen. Die langjährige Leiterin dieses Anna-Seghers Museums, Monika Melchert, erzählte kenntnisreich und emphatisch vom Leben und Schreiben der Autorin in Mexiko. Nach Stationen in Paris und Marseille konnte Seghers im März 1941 mit ihrer Familie aus dem besetzten Frankreich nach Mexiko fliehen, freundlich begrüßt von Pablo Neruda, zu diesem Zeitpunkt dort Generalkonsul Chiles. Der in der mexikanischen Botschaft im Jahr 2024 online zugeschaltete Romanist Matei Chihaia zeigte ein Foto von Seghers’ Empfang: »Willkommen, Anna!« stand auf dem Schild über der improvisierten Strohdachlaube, wo man ihre Ankunft feierte, und nach Nerudas Rede gab es »Kozido«, das traditionelle Kichererbsengericht.

Dank des liberalen Umgangs der mexikanischen Regierung mit den deutschen Exilanten konnten diese sich frei betätigen. Seghers brachte 1941 mit ihrem Freund Egon Erwin Kisch und Bruno Frei die erste Nummer der Monatszeitschrift Freies Deutschland. Alemania libre heraus, bald das wichtigste Presseorgan des deutschen Exils in Mexiko und Lateinamerika. Sie leitete den Heinrich-Heine-Club, in dem regelmäßig Lesungen, Film- und Theateraufführungen und Musikabende stattfanden. Die erste deutschsprachige Version ihres 1938 im Exil in Paris begonnenen Romans »Das siebte Kreuz« erschien im Januar 1943 in dem von Walter Janka geleiteten Exilverlag El libro libre. »Ich verdanke diesem Land unsäglich viel, soviel, wie ein Kind seiner guten Pflegemutter zu danken hat«, zitierte Melchert Seghers und machte anschaulich, weshalb Seghers ihre Zeit in Mexiko zu den »wichtigsten Abschnitten« ihres Lebens zählte.

»Das siebte Kreuz« hatte Seghers ein zumindest finanziell sorgenfreies Leben in Mexiko beschert. Mit Kriegseintritt 1942 in den USA veröffentlicht, kam der Roman zur richtigen Zeit und wurde ein Riesenerfolg. 1942 erschien ein Comic, 1944 der Film von Fred Zinnemann mit Spencer Tracy in der Hauptrolle. Im Januar 1945 hatten Tausende GIs auf dem Weg nach Europa die – gekürzte – Armed Services Edition des Romans in ihrem Marschgepäck.

Heute gilt »Transit« als bestes Buch des deutschen Exils, erzählte Melchert. Darin kommt auch der mexikanische Generalkonsul Gilberto Bosques vor, dem Seghers ihr Visum verdankte: »Man führte mich in die Kanzlei. Und hinter der Schranke, an einem mächtigen Tisch, saß klein und funkelnd mein Kanzler, mit den wachsten Augen der Welt.« Über diesen »Botschafter der Menschenwürde«, der mehr als vierzigtausend Flüchtlinge rettete, wurde per Videoschaltung eine mit vielen Fotos und Originaldokumenten versehene Onlinepräsenz eröffnet.

Eine Frage aus dem Publikum zum Schriftsteller Gustav Regler blieb unbeantwortet. Offenbar gibt es immer noch Bedenken, über die erbitterten politischen Auseinandersetzungen, die unter den deutschen Exilierten geführt wurden, zu sprechen. Darüber wurde hinterher debattiert – bei Wein und la cerveza más fina.

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