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Aus: Ausgabe vom 15.03.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literaturwissenschaft

Verlorenes Land

Der Literaturwissenschaftlerin Leonore Krenzlin zum 90. Geburtstag
Von Ronald Weber
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Hat mit zahlreichen Aufsätzen und Studien zu einem differenzierten Blick auf die DDR-Literatur beigetragen: Die 1934 in Leipzig geborene Germanistin Leonore Krenzlin

Als Leonore Krenzlin im Dezember 1990 erstmals an einer Tagung des »Internationalen Arbeitskreises Literatur und Germanistik in der DDR« in Bonn teilnahm, wurde sie Zeugin eines administrativen Aktes, der aufzeigte, wie die Bundesdeutschen künftig mit der DDR-Literatur umzugehen gedachten. Der Veranstalter und Geldgeber, die CDU-nahe Karl-Arnold-Stiftung, hatte dem seit 1978 existierenden Gremium kurzerhand einen neuen Namen verpasst. Es hieß fortan »Internationaler Arbeitskreis Literatur und Germanistik in der (ehemaligen) DDR« und löste sich alsbald ganz auf. Mit dem Systemgegensatz war auch die Forschung zur Literatur jenseits der Elbe an eine Grenze gekommen. Sie führt seitdem ein Nischendasein. Für die Literaturwissenschaftler, die aus der DDR kamen, blieb der Gegenstand weiterhin von großem Interesse – ließen sich doch erst jetzt, mit Blick auf die Archive, viele Fragen beantworten.

Die 1934 in Leipzig geborene Germanistin Leonore Krenzlin hat mit zahlreichen Aufsätzen und Studien zu einem differenzierten Blick auf die DDR-Literatur beigetragen. Krenzlin stammt aus einer akademischen Familie. Ihr Vater, der Kunsthistoriker Herbert Zschelletzschky, war als Dozent am Institut für Kunstgeschichte der Humboldt-Universität tätig. Ebenda studierte Krenzlin in den 50er Jahren Germanistik. Im Anschluss daran war sie als wissenschaftliche Assistentin am Germanistischen Institut beschäftigt. Dort hörte sie u. a. Vorlesungen von Gerhard Scholz, der mit seinem literatursoziologischen Ansatz und respektlosen Umgang mit den Klassikern eine ganze Generation von Literaturwissenschaftlern geprägt hat.

Das war ein gutes Rüstzeug für kommende Konflikte. Denn Krenzlin wurde 1965 als Kulturredakteurin für das Neue Deutschland tätig, jenem Jahr, in dem nicht nur Wolf Biermann angegriffen wurde, sondern mit dem 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965 auch nahezu die gesamte Riege der jüngeren Schriftsteller. Die Folge waren Entlassungen. Auch Krenzlin war davon betroffen, weil sie die Beschlüsse des 11. Plenums nicht gutheißen wollte. In der Konsequenz erhielt sie ein unausgesprochenes Berufsverbot.

Es dauerte fünf Jahre, bis sie wieder Fuß fassen konnte. Ab 1970 war sie am Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften angestellt. Zu ihren Schwerpunkten zählte die Blut- und Boden-Literatur. In diesem Zusammenhang arbeitete sie am 10. Band der »Geschichte der deutschen Literatur« mit, der den Zeitraum 1917 bis 1945 abdeckt. Daran schlossen sich Forschungen zur Frage der Literatur der »Inneren Emigration« an, jenem Schlagwort, das bald zum Kampfbegriff gegen die ins Exil Getriebenen wurde. Krenzlin ist seitdem Spezialistin für deutsche Nachkriegsliteratur, sozusagen ihr zweites Standbein. Das dritte ist die DDR-Literatur. Neben Hermann Kant, über den Krenzlin 1978 promoviert wurde, hat sie sich intensiv mit Brigitte Reimann, Johannes R. Becher und Anna Seghers beschäftigt und zu kulturpolitischen Marksteinen der DDR wie dem Formalismusplenum von 1951 und dem »Bitterfelder Weg« Studien vorgelegt.

Leonore Krenzlin ist seit 1979 mit dem Exilforscher Dieter Schiller verheiratet. Die Spuren, dieser produktiven Arbeitsbeziehung sind in dem 2019 erschienenen Band »Rückblick auf ein verlorenes Land. Studien und Skizzen zur Literatur der DDR« versammelt. Der Titel drückt auch das Verhältnis Krenzlins zur Deutschen Demokratischen Republik aus. Da schwingt – bei aller Kritik, die man Krenzlins Aufsätzen entnehmen kann – Trauer mit. Zugleich betont das »Verlieren«, dass da auch ein Einsatz war und etwas verspielt wurde, Vertrauen nämlich.

Eben darum ging es am Mittwoch auch in dem Vortrag unter dem Titel »Provozierte Dissidenz«, in dem Krenzlin ein Resümee ihrer Forschungen zog. Die in den Räumen der Hellen Panke in Berlin erschienen Gäste spendeten heftig Applaus und ließen die Jubilarin hochleben.

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