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Aus: Ausgabe vom 15.03.2024, Seite 10 / Feuilleton
Museumslandschaft

Friede den Hütten

Eine Ausstellung über Protestarchitektur im Wiener Museum für Angewandte Kunst
Von Kerstin Kellermann
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»Behauptungen von Normalität in gänzlich unnormalen Situationen«: 1.10-Modell der Baumhaussiedlung Beechtown im Hambacher Forst

Ein rundes Auto auf den Kopf gestellt und an eine Haustüre gelehnt, als künstlerisches Hindernis gegen unerwünschte Besucher. In der Bockenheimer Landstraße 111, im Jahr 1970 in Frankfurt am Main begann die Hausbesetzerszene mit ihren Um-, Zu- und Ausbauten. Der Fluxuskünstler Wolf Vostell, der so gerne Pyramiden aus Autos oder Fernsehern baute, die er in Beton goss, hätte an dem Bild seine Freude gehabt. »VW-Käfer Barrikade« heißt das Foto von Hans Rempfer.

Bei Sesshaftwerdung von Protesten entsteht Protestarchitektur. Nicht nur bei Punks kann das oft ganz schnell gehen mit dem Sesshaftwerden. Die Ausstellung »Protest/Architektur, Barrikaden, Camps, Sekundenkleber« im Wiener Museum für Angewandte Kunst denkt Protestarchitektur nicht nur »vom Ende her«, also um Angriffe abzuwehren, sondern beispielsweise vom Häuslichen, wie auf einem Erklärungsplakat der Kuratoren angedeutet wird. Häuslichkeit (oft als Parodie) sei ein Kennzeichen dieser speziellen Bauten. So gebe es oft Badewannen, Blumenkästen »oder andere Behauptungen von Normalität in gänzlich unnormalen Situationen«. Dreizehn Protestbewegungen auf der ganzen Welt werden hier gezeigt, davon waren fünf erfolgreich. Aufeinandergelegte Backsteine, Minibarrikaden, die wie kleine Polotore aussehen. Sie sollten in Hongkong die Durchfahrt von Polizeiautos verhindern. Nicht selten sei Protestarchitektur eher symbolisch denn tatsächlich nützlich.

Häuschen scheinen in der Luft zu schweben, kleine Holzmodelle hängen an schwarzem Bindfaden von der hohen Decke herunter. Kordeln und Seile ergeben eine Art Steg. Basierend auf Drohnenaufnahmen der Baumhaussiedlung Beechtown im Hambacher Wald hat der Künstler Stephan Mörsch eine der Siedlungen nachgebaut. Nur die Bäume sind weggelassen, wodurch die ganze Inszenierung etwas Schwebendes und Leichtes erhält. Verrückt, spielerisch und opulent zugleich. »Im Prinzip ist das Modell ein dreidimensionales Knotenlehrbuch«, steht dabei und dass diese Widerstandsform zumindest bei Schwindelfreien ein »beflügelndes Gefühl« erzeugt. Auf einem Aquarell des australischen Malers Chapman namens »Union camp, Barcaldine« von 1891 ist ein während eines historischen Schafschererstreiks errichtetes Gewerkschaftscamp abgebildet. Vier Monate lang streikten in jenem Jahr die Schafscherer gegen schlechte Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne im australischen Queensland. Im Hauptcamp nahe Barcaldine waren bis zu 1.000 Arbeiter untergebracht.

Alle möglichen Protestarchitekturen und Widerstandsformen mit Bautencharakter sind in der Ausstellung versammelt. Freudig und ernsthaft zugleich streunen viele junge Leute zwischen den diversen Modellen herum. Auf einem Foto sieht man Männer mit Westernhüten vor Holzhütten: Veteranen des Ersten Weltkriegs kampierten 1932 auf einem Sumpfgebiet am Ufer des durch die Stadt Washington fließenden Anacostia River, um die Politiker im Kapitol auf der anderen Seite des Flusses auf sich aufmerksam zu machen. Durch das Bonus Army Camp wollten die Protestierenden die Auszahlung einer Prämie durch Präsident Hoover erreichen. Ihre Holzverschläge ähnelten den neuen Elendsquartieren während der Weltwirtschaftskrise, den sogenannten Hoovervilles.

»Friede den Hütten« steht auf einem Holzhaus auf Stelzen oder Pfählen. Der Künstler Rokas Wille fotografierte die Bauten der Lützerath-Besetzung und baute kleine, originalgetreue Papiergebäude aus den Fotos. Zur Räumung eines besonderen Typus von Protestarchitektur, des »Baumhauses ohne Baum« rücken Spezialkräfte an. Das dauert. Denn ab einer Höhe von 25 Metern muss in Deutschland und Österreich ein spezielles Höheninterventionsteam angefordert werden. In der Zwischenzeit können die Unterstützer das Gelände erreichen, kann die Räumung von Medien begleitet werden oder können sich die Besetzer langsam an den Anblick von anrückenden Polizisten und Räumfahrzeugen gewöhnen.

Wohnungslose in Brasilien lassen ihre Besetzungen brachliegender Grundstücke durch einen »Architektursektor« organisieren, der Wege und Plätze absteckt. 33.000 Beteiligte lebten so bei der Besetzung »Povo Sem Medo/Volk ohne Angst« in Hütten, die eine Adresse haben. Die berühmte Holzpyramide in der Wiener Lobau wurde im Februar 2022 geräumt und zerstört. Ein 30sekündiger Kurzfilm von Christoph Schwarz zeigt den Abriss der Pyramide – rückwärts. »Wie aus Zauberhand scheint dabei unter Polizeischutz die erste Wiener Ökopyramide zu entstehen.«

Ein Meer von Zelten und Abdeckplanen, das für Hunderte von Protestierenden ein vorübergehendes Zuhause geworden war: Die kleinen, äußerst liebevoll und detailreich nachgebauten Widerstandsmodelle zeigen, dass diese Protestformen nicht nur dem Schutz gegen Polizei oder Militär dienen, sondern auch das Gemeinsame, Gemeinschaftliche feiern.

»Protest/Architektur, Barrikaden, Camps, Sekundenkleber«, Wiener Museum für Angewandte Kunst, bis zum 25. August 2024

www.mak.at/protestarchitektur

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