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Aus: Ausgabe vom 15.03.2024, Seite 4 / Inland
Justiz und DDR

Ministerium oder Botschaft

Prozess gegen ehemaligen MfS-Mitarbeiter: LKA-Vertreter orientierungslos. Zeugin sagt nach 50 Jahren aus
Von Nico Popp
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Tonband läuft: Das Gericht und die Prozessbeteiligten am Donnerstag in Berlin

Am Donnerstag hat in Berlin der Prozess gegen einen ehemaligen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) begonnen. Die Staatsanwaltschaft wirft dem heute 80jährigen Manfred N. vor, am 29. März 1974 den polnischen Staatsbürger Czesław Kukuczka im Bereich der Grenzübergangsstelle am Bahnhof Friedrichstraße – dem sogenannten Tränenpalast – niedergeschossen zu haben. Kukuczka erlag an diesem Tag seinen Verletzungen. Die Anklage lautet auf heimtückischen Mord.

Der Schuss fiel damals im Zusammenhang mit dem Versuch Kukuczkas, vermöge einer Bombendrohung in der Botschaft der Volksrepublik Polen seine Ausreise nach Westberlin zu erzwingen. Die Staatsanwaltschaft deutet die Absicht der »Unschädlichmachung« des Mannes mit dem (vermeintlichen) Sprengsatz, die sich aus den Akten des MfS ergibt, als Tötungsvorsatz. Das Mordmerkmal der Heimtücke sieht sie erfüllt, weil Kukuczka in dem Augenblick aus einem Versteck heraus mit »Tötungsabsicht« niedergeschossen worden sei, in dem er bereits habe annehmen können, dass seine Ausreise nicht mehr verhindert werden würde. Der Angeklagte äußerte sich am Donnerstag nur zu seinen Personalien. Seine Anwältin erklärte, dass er die ihm vorgeworfene Tat bestreite.

Weil das Gericht dem Prozess »zeitgeschichtliche Bedeutung« beimisst, wird eine Tonaufnahme angefertigt. Das geschehe erstmals, versicherte Gerichtssprecherin Lisa Jani. Unter den Zuhörern waren am Donnerstag neben zahlreichen Pressevertretern auch zwei Staatsanwälte aus Polen sowie Personen aus Institutionen der amtlichen und halbamtlichen DDR-»Aufarbeitung«. Für sie hat der Fall besondere Bedeutung: Kommt es zu einem Schuldspruch im Sinne der Anklage, wäre erstmals ein ehemaliger Mitarbeiter des MfS wegen eines im Dienst begangenen Tötungsverbrechens verurteilt worden.

Ob das so laufen wird, ist nach dem ersten Prozesstag, an dem es allenfalls am Rande um die prinzipielle Plausibilität des Tatvorwurfs und die wesentliche Frage nach der Verlässlichkeit der Akten ging, allerdings offen. Der erste vernommene Zeuge war am Donnerstag Herr S. vom Berliner Landeskriminalamt. Er habe anhand der alten Akten eine »kleine Chronologie« erstellt, die ihm »schlüssig« vorgekommen sei, antwortete er auf die Aufforderung des Vorsitzenden Richters hin, über die Ermittlungen zu berichten. Auf dieser Grundlage habe er dann eine neue Strafanzeige gefertigt. Für einen Polizeibeamten, der zur Sache ermittelt oder zumindest die über Jahrzehnte angefallenen Akten zu dem Fall neu ausgewertet hat, war er auffällig schlecht im Stoff.

Die Verteidigerin von N. fragte S., ob er die Beschreibungen des mutmaßlichen Schützen in den Akten mit dem Erscheinungsbild von N. abgeglichen habe. Das war nicht der Fall. Eine gründliche Prüfung der Plausibilität der Zeugenaussagen hat er nicht vorgenommen. Er wusste auch auf Nachfrage nicht sicher, ob Kukuczka seine Bombendrohung in der polnischen Botschaft ausgesprochen hatte – oder nicht doch in einem »Ministerium«, wie er zunächst aussagte. Bei einem an die Wand projizierten Dokument, das die Auszeichnung mehrerer mit dem Fall befasster MfS-Mitarbeiter belegt, konnte er das für den Fall elementare Kürzel »HA VI« (die für Passkontrolle und Fahndung zuständige Hauptabteilung VI des MfS) nicht entschlüsseln. Dass er auch die Frage der Verteidigerin verneinen musste, ob er denn ermittelt habe, welche Funktion der Angeklagte im MfS am Tattag eigentlich hatte, überraschte schon nicht mehr. Er hat auch den mutmaßlichen Tatort nicht aufgesucht.

Fundierter fiel am Nachmittag die Aussage einer 65jährigen Frau aus Bebra aus. Sie wollte am 29. März 1974 als 15jährige nach einem mehrstündigen Ausflug nach Ostberlin mit ihrer Schulklasse nach Westberlin ausreisen und hielt sich im Bereich der Passkontrolle auf, als Kukuczka mit seiner Tasche an ihr vorbeilief und, so schildert sie es, am Eingang der Unterführung zu den Bahnsteigen niedergeschossen wurde. Den mutmaßlichen Schützen beschrieb sie am Donnerstag als großgewachsen und schlank. Als die Verteidigerin des Angeklagten ihr vorhielt, dass sie den Schützen im April 1974 als »korpulent« und mittelgroß beschrieben und dessen Alter auf 45 Jahre geschätzt hatte, schwieg sie einige Zeit. Am 4. April wird der Prozess fortgesetzt.

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