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Aus: Ausgabe vom 14.03.2024, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Gig-Economy

Deal bei Plattformarbeit

EU-Rat verabschiedet Richtlinie zu Beschäftigten bei Uber und Co. Deutschland und Frankreich überstimmt
Von Sebastian Edinger
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Zur Eindämmung von Scheinselbständigkeit soll ein Katalog mit fünf Kriterien eingeführt werden

Bereits zweimal hatten sich EU-Parlament, Rat und Kommission auf einen Kompromiss zur Plattformrichtlinie geeinigt. Doch jedes Mal ließen mächtige Mitgliedstaaten die Einigung scheitern, um das Gesetz zum Schutz der Beschäftigten von Uber, Deliveroo und Co. weiter zu verwässern – zuletzt am 9. Februar. Am Montag gelang dann in einem weiteren Anlauf doch noch der Durchbruch: Die EU-Mitgliedstaaten haben die letzte Fassung der Richtlinie angenommen.

Dabei ist Ungewöhnliches passiert: Mit Frankreich und Deutschland wurden die beiden größten und vermeintlich einflussreichsten Mitgliedstaaten überstimmt. Die Vertreter aus Paris und Berlin hatten sich enthalten, was angesichts der Abstimmungsregeln im Rat einer Ablehnung gleichkommt. Die anderen beiden an der früheren Blockade beteiligten Staaten – Griechenland und Estland – hatten sich hingegen nun doch noch zur Zustimmung durchgerungen und so den Weg für die Richtlinie frei gemacht. Die französische Regierung hatte vergangene Woche sogar noch versucht, das Verfahren durch weitere, kurzfristige Änderungsanträge zu erschweren.

Die sich angesichts grundlegender Unstimmigkeiten in der Ampelregierung häufenden Enthaltungen der deutschen Vertreter auf EU-Ebene werden dort mittlerweile als »German Vote« tituliert. Ein solches gab es auch diesmal – wenngleich die Bundesregierung ihre Zustimmung zu den EU-Bemühungen zur Regulierung von Plattformarbeit zum Amtsantritt noch im Koalitionsvertrag verbrieft hatte. Doch die FDP wollte nun jedoch nicht mehr mitspielen, und argumentierte, die Richtlinie stelle »einen Angriff auf alle Selbstständigen in Europa« dar. Es könne nicht sein, »dass Selbstständige gegen ihren Willen zu Beschäftigten gemacht werden sollen«, echauffierte sich etwa der stellvertretende Bundesvorsitzende, Johannes Vogel.

Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) betonte dagegen am Montag: »Wer nicht kompromissfähig ist, kann nicht mitgestalten. Ich bedauere das Abstimmungsverhalten persönlich sehr.« Trotzdem sei er froh, dass eine Einigung geglückt ist. Digitalisierung im Arbeitsleben dürfe nicht mit Ausbeutung verwechselt werden. »Zudem werden mit der Richtlinie erstmals EU-weite Regelungen für den Einsatz automatisierter Überwachungssysteme in der Arbeitswelt geschaffen«, so Heil weiter. Solche Vorschriften wollte Heil seinerzeit schon als Arbeitsminister im Kabinett Merkel auf nationaler Ebene einführen, war damit jedoch gescheitert.

Vorschriften zu algorithmischer Überwachung zugunsten der rund 28 Millionen Plattformarbeiter in der EU sind neben den Maßnahmen zur Eindämmung der Scheinselbstständigkeit die zweite große Säule der Richtlinie. Vorgesehen ist etwa ein Recht für Beschäftigte von Taxi- und Zustelldiensten, darüber informiert zu werden, wenn es ein Algorithmus ist, der sie durch die Stadt hetzt und Aufträge vergibt. Außerdem dürfen bestimmte Arten personenbezogener Daten nicht für die technologisierte Arbeitsplanung verwendet werden – etwa Daten über den emotionalen oder psychologischen Zustand der Beschäftigten, über private Gespräche oder solche zur Vorhersage tatsächlicher oder potentieller gewerkschaftlicher Aktivitäten.

Zur Eindämmung von Scheinselbstständigkeit soll ein Katalog mit fünf Kriterien eingeführt werden. Sind zwei davon erfüllt, wird ein Angestelltenverhältnis angenommen und der Beschäftigte hat Anspruch auf damit verbundene Rechte, wie etwa Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder Kündigungsschutz. Zu den Kriterien gehören unter anderem Obergrenzen bei der Vergütung, Weisungsgebundenheit bei der Aufgabenverteilung und Beschränkungen bei der Wahl der Arbeitszeiten. Die Mitgliedstaaten wurden ausdrücklich befugt, bei der nationalen Umsetzung weitere Kriterien zu ergänzen.

Der Spitzenkandidat der Linken für die EU-Wahl im Juni, Martin Schirdewan, bezeichnete das Abstimmungsergebnis im Rat am Dienstag als »Sieg für Millionen von Menschen, die in der EU für digitale Plattformen arbeiten und eine schallende Ohrfeige für die Bundesregierung«. Bevor die Richtlinie in nationales Recht überführt werden kann, muss das EU-Parlament auch noch zustimmen.

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