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Aus: Ausgabe vom 14.03.2024, Seite 5 / Inland
Mobilitätswende

Nahverkehr leidet an Altersschwäche

Studie: Zehntausende ÖPNV-Beschäftigte gehen in Rente. Nachwuchs ist kaum in Sicht
Von Ralf Wurzbacher
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»Zusammenbruch des ÖPNV«: Ohne ein Gegensteuern müssen Nahverkehrsmittel mittelfristig in den Depots stehenbleiben

Erklärtes Ziel der Bundesregierung ist es, die Fahrgastzahlen im öffentlichen Personennahverkehr bis 2030 zu verdoppeln. Das Problem: Von den aktuell rund 136.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die heute Busse, Straßen-, S- und U-Bahnen steuern, gehen in den kommenden sechs Jahren 63.000 in Rente – also fast die Hälfte.

Wie am Dienstag die Gewerkschaft Verdi warnte, zeichnet sich ohne großangelegte Personaloffensive statt der beschworenen Mobilitätswende ein anderes Szenario ab – »der Zusammenbruch des ÖPNV«. Verdi und die Klima-Allianz Deutschland, ein breites gesellschaftliches Bündnis mit rund 150 Mitgliedsorganisationen, haben sich vom Beratungsunternehmen KCW ermitteln lassen, wie groß der Bedarf an frischen Mitarbeitern ist. Um die Vorgabe der Ampel zu erfüllen, müssten mittelfristig 150.000 neue Kräfte gewonnen werden.

Danach sieht es gerade nicht aus, eher im Gegenteil. Wegen schlechter Arbeitsbedingungen und Bezahlung scheiden immer mehr Menschen aus dem Job aus beziehungsweise fehlt es an ausreichend Nachrückern. Zudem ist der Krankenstand in der Branche mit bis zu 18 Prozent extrem hoch, im Fahrdienst erreicht er mithin sogar 25 Prozent. Derzeit führt Verdi Tarifverhandlungen in den Bundesländern und mit einzelnen Verkehrsbetrieben im Bestreben, den Beruf attraktiver zu machen.

Kernforderungen sind neben einer Begrenzung geteilter Dienste auch Entlastungselemente wie zusätzliche freie Tage für Schicht- und Nachtarbeit, ein Urlaubstag mehr sowie eine schrittweise Absenkung der Wochenarbeitszeit bis Mitte 2027 von 39 auf 37 Stunden bei vollem Lohnausgleich. In besagter KCW-Untersuchung werden die Auswirkungen einer Vier-Tage-Woche durchgerechnet: Demnach könnte die Fluktuation um deutlich über 50 Prozent und die Krankheitslast um mehr als 60 Prozent zurückgehen.

»Die Zeit des Lohndumpings muss endlich vorbei sein. Faire Löhne im ÖPNV sind der Grundstein für ein modernes und nachhaltiges Verkehrssystem«, äußerte sich Andreas Schackert, Verdi-Bundesfachgruppenleiter für Busse und Bahnen in einer Medienmitteilung. Die Tarifentgelte für Berufseinsteiger bewegen sich aktuell zwischen 13,99 Euro und 17,97 Euro pro Stunde, altgediente Mitarbeiter bekommen 14,50 Euro bis maximal 19,75 Euro. Schackerts Appell richtet sich ausdrücklich an die Politik.

Handelten Bundesregierung, Länder und Kommunen nicht zeitnah, werde sich das ÖPNV-Angebot »künftig massiv verschlechtern«. Tatsächlich bedürfte es nur zur Aufrechterhaltung des Status quo gemäß der Analyse allein bis zu 65.000 neuer Fahrer bis zum Ausgang des Jahrzehnts. Bis 2035 würden die Erfordernisse auf 85.000 bis 91.500 Personen steigen. Stand jetzt ist der Beruf vom »Aussterben« bedroht, circa 55 Prozent aller Beschäftigten sind 50 Jahre und älter, 40 Prozent über 55 und nahezu 20 Prozent über 60 Jahre alt. Dagegen stellen jüngere Jahrgänge zwischen 18 und 30 Jahren lediglich knapp über sechs Prozent des Personalbestands.

»Neben guten Arbeitsbedingungen und einem attraktiven Berufsbild sind weitere Maßnahmen wie ÖPNV-Beschleunigung sowie der Ausbau kapazitätsstarker Schienenverkehre zu ergreifen«, erklärte Studienautor Christoph Schaaffkamp. Dafür brauche es insbesondere »schnelle Planungen und Genehmigungen«. Die Klima-Allianz und Verdi sehen die Bundesregierung vor allem auf drei Feldern in der Pflicht. Erstens sei der ÖPNV »besser und langfristig zu finanzieren«, um dem akuten Personalmangel zu begegnen und die Fahrgastzahlen auszuweiten.

Zweitens müsse das Deutschlandticket über das Jahr 2035 hinaus garantiert und ein bundesweites Sozialticket für Menschen mit wenig Einkommen eingeführt werden. Drittens müsse durch Realisierung des Deutschlandtaktes eine »Mobilitätsgarantie auf dem Dorf und in der Stadt« etabliert werden. »Dichte Taktungen und ein attraktives Netz gibt es nur mit guten Arbeitsbedingungen«, bekräftigte Stefanie Langkamp von der Klima-Allianz. »Deswegen muss die Bundesregierung jetzt dringend handeln und die Kommunen finanziell unterstützen.«

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