4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 14.03.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Kommunalwahlen Polen

Bilder statt Inhalte

Polen: Regierungskoalition versucht vor den Regionalwahlen die Reihen zu schließen. Parlamentspräsident trickst mit Abtreibungsdebatte
Von Reinhard Lauterbach, Poznań
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Hauptsache mit Herz: Die regierende Bürgerplattform wirbt mit der Macht der Symbole (Warschau, 8.3.2024)

Die Krokusse und Osterglocken in den Vorgärten machen sich noch rar in diesem kühlen polnischen Vorfrühling. Aber seit ungefähr einer Woche sprießen die Wahlplakate wie Pilze nach einem warmen Regen. Kein Zaun und kein Brückengeländer, von dem einen nicht würdig dreinschauende Kandidatinnen und Kandidaten anblicken. Sonst steht nicht viel auf den Plakaten: keine Parolen, keine inhaltlichen Forderungen, nur wenn man in einer Ecke ein rot umrandetes weißes Herzchen sieht, weiß man, dass die »Bürgerplattform« von Donald Tusk für diese Person wirbt. Die Bewegung »Dritter Weg« von Parlamentspräsident (Sejmmarschall) Szymon Hołownia suggeriert Nähe zu ihren Kandidaten nur durch gelbe – das ist die Parteifarbe – Flächen als Hintergrund der Porträts. Mutmaßliche PiS-Kandidaten erkennt man allenfalls durch eine etwas steifere, autoritär anmutende (»als hätten sie verschluckt den Stock / Womit man sie einst geprügelt«) Typographie, sie verbergen sich aber ansonsten hinter Phantasienamen der Wahlvereine, in deren Namen sie diesmal antreten. Das Niveau der Plakate nähert sich dem in Ländern mit hohem Analphabetenanteil, wo für die eine Partei eine Kuh ins Rennen geht, für die andere ein Elefant. Wenn man nicht wüsste, dass am 7. April in Polen die Kommunal- und Regionalparlamente sowie die Bürgermeister gewählt werden, könnte man die Plakatkulisse auch für ein Casting der Friseurinnung in den Kategorien Damen und Herren halten.

Erste Risse in Koalition

Der Eindruck gepflegter Langeweile ist einerseits richtig, denn Kommunen und Regionen haben in Polen per Verfassung weniger zu entscheiden als ihre Entsprechungen in Deutschland. In den Jahren der PiS-Herrschaft hat die Regierung das Ihre getan, den nachgeordneten Ebenen Aufgaben im sozialen und Bildungsbereich aufzuhalsen, ohne ihnen aber autonome Einnahmequellen zu belassen. Sie wurden durch Einmalzuwendungen nach politischem Gutdünken ersetzt, mit denen sich ein Minister fernsehwirksam in Szene setzen konnte; war aber ein Stadtrat bockig und förderte aus kommunalen Mitteln In-Vitro-Behandlungen oder LGBT-Aktivitäten, blieb das Geld aus Warschau eben aus. So sind die anstehenden Wahlen tatsächlich in hohem Maße Abstimmungen darüber, wie sich der einzelne Bürgermeister in den letzten Jahren gemacht hat. Das entzieht sich zwangsläufig einer Gesamtbetrachtung. Andererseits haben die Kommunalwahlen für die Warschauer Politik durchaus eine Bedeutung: als erster Stimmungstest, sechs Monate nach den Parlamentswahlen. Wie kommen die bisherigen und überwiegend auf symbolische Handlungen beschränkten Aktionen zum »Aufräumen« mit der Hinterlassenschaft der letzten acht Jahre beim Wahlvolk an bzw. aus Sicht der PiS: In welchem Umfang lassen sich die Bauernproteste – an deren Ursachen sie selbst kräftig mitgewirkt hat – gegen das »Tusk-Regime« instrumentalisieren?

Für die Sache der PiS-Gegner kommt hinzu, dass die Einheit gegen die Rechte, um derentwillen die »Koalition des 15. Oktober« geschlossen worden ist, erste Risse bekommt. Streitpunkt ist die Frage des Schwangerschaftsabbruchs. Die polnische Linkspartei hat schon im Januar zwei Gesetzentwürfe eingebracht, von denen einer eine generelle Freigabe der Abtreibung bis zur zwölften Woche vorsieht, der andere als Interimslösung die Strafbedrohung gegen sogenannte Beihilfe zum Schwangerschaftsabbruch aus dem Strafgesetzbuch streicht: Das betrifft die Mutter, die ihrer Tochter einen Termin für den Abbruch ausmacht, den Mann, der seine Partnerin zum Eingriff nach Tschechien fährt, die Aktivistin, die einer betroffenen Frau die Nummer einer polnischsprachigen Gynäkologin in Berlin zusteckt. Die »Bürgerplattform« von Donald Tusk hat sich diesen Forderungen weitgehend angeschlossen, schon aus der Kalkulation Tusks heraus, dieses zugkräftige und emotionsträchtige Thema eben nicht der Linken zu überlassen.

Kalkulation mit rechts

Aber Sejmmarschall Szymon Hołownia tut alles, um eine parlamentarische Debatte über dieses Thema zu verzögern. Obwohl er zum Amtsantritt versprochen hatte, den parlamentarischen »Gefrierschrank« – in dem unwillkommene Initiativen durch Nichtbefassung zu den Akten gelegt werden – abzuschalten, hat er einen bereits vereinbarten Beratungstermin im März auf den 11. April verschoben – nach der Kommunalwahl. Vorher sei »nicht der geeignete Zeitpunkt für dieses Thema«. Hołownia ist ein Gegner der Liberalisierung und will allenfalls zurück zur restriktiven Indikationslösung des sogenannten Abtreibungskompromisses von 1993. Und selbst darüber soll nach seinem Willen noch ein Referendum veranstaltet, also der Kirche und der Rechten eine Agitationsgelegenheit verschafft werden, als hätten nicht beide die Wahlen verloren, die einen arithmetisch, die anderen symbolisch. Die mutmaßlichen Gründe der Blockade sind persönliche Ambitionen Hołownias: Er will 2025 Staatspräsident werden, dazu braucht er auch Stimmen aus dem konservativen Lager, kann dessen Anhänger also jetzt nicht verprellen. Am 7. April könnte diese Kalkulation allerdings auch nach hinten losgehen und Hołownia als Verhinderer eines liberaleren Abtreibungsrechts einen Denkzettel bekommen – vor allem von Frauen, die seine Partei im Oktober zahlreich gewählt hatten.

Hintergrund: Einigkeit beim Rüsten

Bei allen innenpolitischen Streitereien: In der Außenpolitik ziehen die PiS und die neue polnische Regierungskoalition an einem Strang. Das wurde bei dem gemeinsamen Kurzbesuch von Staatspräsident Andrzej Duda (PiS) und Regierungschef Donald Tusk (PO) am Dienstag in Washington abermals deutlich. Duda forderte die NATO auf, ihr Ausgabenziel für die Mitgliedstaaten um 50 Prozent von zwei auf drei Prozent des jeweiligen Sozialprodukts zu erhöhen. Die zwei Prozent seien vor zehn Jahren in Ordnung gewesen, so Duda, heute brauche man mehr. Polen gibt heute knapp vier Prozent seines Sozialprodukts für sein Militär aus, in relativen Zahlen ähnlich viel wie die USA.

Tusk widersprach dieser Forderung ausdrücklich nicht. Schon vor dem Abflug nach Washington hatte er am Montag in Warschau gesagt, trotz der vielen gegensätzlichen Auffassungen gegenüber Duda und seiner Partei, vertrete seine Regierung in »Sicherheitsfragen« eine gemeinsame Position. Das bedeutet umgekehrt, dass die neue Regierung auch die von ihr angekündigte »Abrechnung« mit der Hinterlassenschaft der PiS unter dem Gesichtspunkt dieses Burgfriedens wird dämpfen müssen. (rl)

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