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Aus: Ausgabe vom 13.03.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Hauptsache Blumen

Ein Strauß an Sinnenfreuden: Ofir Raul Graizers Spielfilm »America«
Von André Weikard
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So ein Blumenladen ist ein opulentes Farbenspiel

Was geschieht, wenn ein Koch einen Film dreht? Ofir Raul Graizer, gebürtiger Israeli, aber seit anderthalb Jahrzehnten Berliner, übt den Spagat. Er gibt Kochkurse, gibt seine Lieblingsrezepte als Buch heraus und filmt. Sein Debüt »The Cakemaker« wurde direkt für die Oscars nominiert. Ging es darin noch tatsächlich um einen Bäcker, wie der Titel nahelegt, führt dagegen der Name des aktuellen Films in die Irre. »America« heißt er, spielt nur in wenigen Szenen in einem Chicagoer Schwimmbad und hätte genausogut in Mailand oder Madrid angesiedelt sein können. Im Mittelpunkt steht nämlich nicht die Ferne, sondern die Heimat. Schwimmlehrer Eli ­(Michael Moshonov) muss nach Israel zurück, weil sein Vater verstorben ist. Dort wird er nicht nur mit einem leeren Haus, sondern auch mit seiner Vergangenheit konfrontiert.

Den Jugendfreund Yotam (Ofri Biterman) findet er in bester Verfassung vor. Er führt einen Blumenladen, gemeinsam mit seiner Freundin Iris (Oshrat Ingadashet). Bald wollen die beiden heiraten. Doch es kommt anders. ­Yotam verunglückt beim Baden und liegt fortan im Koma. Währenddessen nähern Eli und Iris sich an. Keine originelle Konstellation, zigfach auch im Kino variiert. Aber Graizer entfaltet rund um die Dreiecksgeschichte einen Strauß an Geschichten. Was manche schleppende Serie in drei Staffeln erzählt, arrangiert er in nur einem Spielfilm. Die Erzählung spannt sich in Episoden über Jahre. Da tauchen biographische Details über Eli auf, über die Gründe, warum er sein Elternhaus verließ. Die Beziehung zum Freund Yotam bekommt Kontur und auch der Charakter von Iris wird im Verlauf der Handlung immer klarer.

Und dann kommt der Koch ins Spiel. Graizers Film ist ein Sinnesschmaus. Schon Iris’ Blumenladen ist ein opulentes Farbenspiel, mehrfach werden Finger aneinander gerieben, der Duft von Salbei spielt eine Rolle. Figuren atmen bewusst ein, flanieren durch ein immergrünes Gewächshaus oder tauchen bedächtig in kühles Wasser ein. Und es wird gekocht. Um den komatösen Yotam zu wecken, werden ihm Petersilie und Minze vor die Nase gehalten, Tomaten werden geschnitten und in der Pfanne geschwenkt. Jedes von Iris’ zahllosen Blumenkleidern, das sie im Verlauf der Erzählung trägt, ist ein optisches Feuerwerk.

Die Themen, die in dieser farbenfrohen Geschichte behandelt werden, sind dabei durchaus düster. Es geht um vertuschte sexuelle Übergriffe, Gewalt und Selbstmord. Die Protagonisten, die alle ihre Geheimnisse haben und ihre verkorksten Leben im Rücken, sind hingegen durchweg gütig, schweigsam, einander zugewandt.

Graizer, der Israel auch deshalb verließ, weil ihm als Homosexuellen die religiös-konservative Gesellschaft zu schaffen gemacht hatte, wie er in Interviews durchblicken lässt, verweigert jede politische Lesart. Er hat statt dessen ein menschliches, hoffnungsfrohes Drama um drei Menschen gemacht, denen das Leben zugesetzt hat – und die dennoch, oder vielleicht gerade deswegen, einander Halt geben. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Und was geschieht, wenn ein Filmemacher kocht? Um das herauszufinden, bietet sich die Teilnahme an einem von Graizers Kochkursen an. ­»America« hat gewiss Appetit darauf gemacht, ihn besser kennenzulernen.

»America«, Regie: Ofir Raul Graizer, Israel/BRD/Tschechische Republik 2022, 127 Min., bereits angelaufen

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