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Aus: Ausgabe vom 13.03.2024, Seite 7 / Ausland
Migrationspolitik

Gnadenlose Verfolgung

Griechenland: Die angeblichen »Brandstifter« des Lagers Mória warten weiter auf Gerechtigkeit
Von Hansgeorg Hermann, Chaniá
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Nach der Katastrophe: Einwohnerinnen von Mória retten ihre letzte Habe (9.11.2020)

Dreieinhalb Jahre nach dem Großfeuer im griechischen Flüchtlingslager Mória auf der Insel Lésbos ist der griechischen Justiz immer noch nicht klar, dass die wirklichen Brandstifter auch Ende der vergangenen Woche nicht im Gerichtssaal saßen, sondern in den EU-Regierungen und -Institutionen. Eine Berufungsinstanz bestätigte am Freitag nachmittag in der Inselhauptstadt Mytilíni die in erster Verhandlung gefällten Schuldsprüche gegen vier junge Afghanen, die angeklagt waren, am 8. September 2020 Feuer an das Lager gelegt und womöglich den Tod von zwölf Menschen verursacht zu haben.

In erster Instanz waren die Minderjährigen auf der Insel Chíos – zur angeblichen Tatzeit 15 bis 18 Jahre alt – im Juni 2021 zu jeweils zehn Jahren Haft verurteilt worden. Lediglich einem Gefangenen wurde dieses Mal ein Strafnachlass von zwei Jahren gewährt. Die griechische Hilfsorganisation Legal Centre Lésvos (LCL), die den Angeklagten seit drei Jahren mit Anwälten zur Seite steht, kündigte am Montag Revision am Obersten Gerichtshof an. Wie die Pressesprecherin der Organisation, Lorraine Leete, gegenüber jW erklärte, sei die Entscheidung in dem siebenköpfigen gemischten Richterkollegium mit fünf gegen zwei Stimmen gefallen. Das LCL werde erneut auf die Verfahrensfehler – »Davon gibt es viele« – und die während der beiden Gerichtsprozesse desavouierten »Zeugen« der Staatsanwaltschaft hinweisen, erklärte Leete.

Wie die Prozessbeobachter der Athener Tageszeitung Efimerída ton Syntaktón (Efsyn) am Montag berichteten, sei die Verhandlung in Mytilíni von offener Ablehnung der aus Kriegs- und Armutszonen geflüchteten Menschen geprägt gewesen. Die Staatsanwaltschaft sei unter dem Motto angetreten, »sie (die Geflüchteten) hätten in ihren Heimatländern bleiben sollen«. Sie habe sich weniger für die Brandnacht und die Situation der Menschen in Mória interessiert als für die Frage, warum die Angeklagten »ausgerechnet nach Griechenland gekommen« seien. Beschädigt oder sogar kriminalisiert worden sei – wieder einmal – die Rolle von unabhängigen Organisationen wie LCL oder Pro Asyl.

Der Prozess gegen die ursprünglich sechs vermeintlichen Täter war in den vergangenen dreieinhalb Jahren von den zuständigen Justizbehörden immer wieder verschleppt, Hinweise der Anwälte auf die Minderjährigkeit der »Brandstifter« waren ignoriert worden. Anträge, den Fall an zuständige Jugendgerichte zu übergeben, wurden zunächst abgelehnt. Erst ein Jahr später war die Anklage in zwei Verfahren getrennt und für zwei Angeklagte der Jugendgerichtsbarkeit übergeben worden.

Das völlig abgebrannte Lager Mória, Symbol der menschenfeindlichen Immigrationspolitik der EU, war ursprünglich für knapp 3.000 Asylsuchende und eine maximale Aufenthaltsdauer von rund einem Monat konzipiert worden. Im Sommer 2020 befanden sich dort nach Angaben der Behörden mehr als 20.000 Menschen. Wegen der auch in Griechenland unter anderem mit Ausgangssperre bekämpften Coronapandemie wurden die in Mória hinter meterhohen Zäunen und Stacheldraht eingepferchten Männer, Frauen und Kinder völlig von der Außenwelt abgeschnitten. Die von der Regionalregierung verhängte Quarantäne – ein früherer Lagerinsasse hatte Covid eingeschleppt, 35 Menschen waren erkrankt – ließ die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln sowie die Organisation des täglichen Lebens vollends zusammenbrechen. In dieser Situation war am 8. September 2020 ein Feuer ausgebrochen, starke Winde verhinderten eine effektive Brandbekämpfung. Bilanz: zwölf Tote, 12.000 Menschen verloren ihr schon vor dem Feuer unwürdiges Obdach, unter ihnen 4.000 Kinder.

Das Ende der »Schande Europas«, wie Jean Ziegler Mória genannt hatte, war allerdings nicht das Ende der schandhaften EU-Immigrationspolitik der Kriminalisierung von Geflüchteten und Hilfsorganisationen. Es gab »Kronzeugen«, die nicht vor Gericht erschienen. »Belastende« Dokumente, die – weil nicht übersetzt – von den Angeklagten nicht verstanden wurden, seien nach wie vor an der Tagesordnung, beklagte das LCL gegenüber jW.

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