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Aus: Ausgabe vom 13.03.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Lateinamerika

»Die Landfrage betrifft ganz Kolumbien«

Über die Möglichkeiten und Grenzen der Agrarreform unter der Regierung von Präsident Gustavo Petro. Ein Gespräch mit Itayosara Rojas
Von Elias Korte
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Wandgemälde in Gedenken der Opfer des jahrzehntelangen Bürgerkriegs in Kolumbien (San José del Guaviare, 8.3.2024)

In Kolumbien ist Landbesitz stark konzentriert. Wie kam es dazu?

Die extrem ungleiche Landverteilung in Kolumbien ist ein ernsthaftes Problem. Nur zwei Prozent der Grundbesitzer kontrollieren 86 Prozent des landwirtschaftlich genutzten Bodens. Dieses Ungleichgewicht hat seine Wurzeln sowohl im kolonialen Erbe als auch im Zerfall der Haciendas und der damit einhergehenden Gewalt. Während des Konflikts zwischen Konservativen und Liberalen in Kolumbien wurde Land gezielt von wenigen Personen akkumuliert. Historisch gesehen haben verschiedene Faktoren zu dieser Landkonzentration beigetragen, aber Gewalt und Enteignung waren entscheidende Elemente. Schätzungsweise sechs Millionen Menschen wurden vertrieben, und etwa sechs Millionen Hektar wurden enteignet.

Ein dramatisches Beispiel ist die Enteignung durch Paramilitärs, bei der Kleinbauern gezwungen wurden, ihr Land zu verkaufen, oft unter Bedrohung ihrer Familien. Dieses Phänomen war besonders in Regionen wie Urabá, Córdoba und Sucre verbreitet, wo heute eine hohe Konzentration von Landbesitz und Aktivitäten wie extensive Viehzucht und Ölpalmenanbau zu beobachten sind.

Hinzu kommt, dass viele Großgrundbesitzer führende Politiker in ihren Regionen sind, die ihre Macht nutzen, um bürokratische Positionen zu besetzen und Wahlen zu beeinflussen. Diese enge Verbindung zwischen Landbesitz, politischer Macht und Kontrolle über die Bevölkerung wird als »soziale Konstellation der Latifundien« bezeichnet.

Sie haben den Kolonialismus als einen Ursprung der heutigen Landverteilung angesprochen. Welche Rolle spielt Großbesitz von Ausländern seit dem Ende des spanischen Kolonialismus?

Die Integration der kolumbianischen Landwirtschaft in den internationalen Markt begann gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Export von Rohstoffen wie Chinin und Kautschuk als Erbe der kolonialen extraktiven Ökonomien. Er wurde von ausländischem Kapital vorangetrieben. Ein bekanntes Beispiel ist die United Fruit Company aus den USA, die großen Landbesitz in Kolumbien erlangte und für das Massaker an streikenden Arbeitern im Jahr 1928 verantwortlich gemacht wird. Das Nachfolgeunternehmen Chiquita Brands wurde ebenfalls mit Paramilitärs in Verbindung gebracht und akkumulierte ebenfalls großen Landbesitz. Aber auch italienische, spanische und britische Konsortien waren stark vertreten, insbesondere im Zusammenhang mit der Ölpalmenproduktion im Departamento Meta und im Korridor zwischen Guaviare und Meta, wo es ebenfalls paramilitärische Landnahme gab. Ein emblematisches Beispiel ist die Gemeinde Mapiripán, wo ein Massaker der Paramilitärs stattfand und sich heute ein Epizentrum der Ölpalmenproduktion befindet, die von einem ausländischen Unternehmen betrieben wird.

Heutzutage erleben wir alte Dynamiken in neuer Ausprägung. Die Einführung der kolumbianischen Landwirtschaft in den internationalen Markt führte zu einer neuen Landkonzentration, oft durch ausländische Kapitaleigner, insbesondere im Zusammenhang mit Agrotreibstoffen und der rasanten Expansion der Palmölproduktion. Darüber hinaus gibt es Entwicklungen wie das Vordringen der extensiven Viehwirtschaft in den Regenwald, der in Weideland für die Rinderzucht umgewandelt wird, um mit dem Land zu spekulieren.

Wie funktioniert denn das genau?

Die Nutzung von Vieh zur Rechtfertigung von Landbesitz ist eine weitverbreitete Praxis. Indem er Vieh hält, signalisiert der Eigentümer, dass er das Land nutzt und beansprucht. Dies dient als Strategie, um den Wert des Bodens zu steigern und den Anspruch auf Eigentum zu festigen. Wenn wenige Besitzer große Landflächen kontrollieren, entsteht ein Monopol auf dem Bodenmarkt. Diese Monopole können dann den Preis bestimmen und von der Dynamik der Spekulation profitieren. Die Nutzung von Viehzucht als Mittel zur Rechtfertigung und Konsolidierung von Landbesitz trägt somit zur weiteren Konzentration von Landeigentum bei und ermöglicht den Eigentümern, von Bodenspekulationen zu profitieren.

Im bewaffneten Konflikt in Kolumbien hat die Landfrage immer eine herausragende Rolle gespielt. Für die Linke, auch die ­Guerillas, war und ist sie eine Priorität. Können Sie das einmal aus dem historischen Kontext heraus erklären?

Die steife agrarische Struktur, die hohe Konzentration des Grundbesitzes und der Ausschluss bestimmter sozialer Gruppen vom Landbesitz sind grundlegende Ursachen für den bewaffneten Konflikt. In den 1920er Jahren eskalierte der Konflikt zwischen Großgrundbesitzern und Pachtbauern. Die Hacienda-Besitzer gestatteten den Pachtbauern, ihr Land zu bewirtschaften, behielten jedoch die Produktion für sich. Oft wurden die Pachtbauern lediglich mit Gutscheinen entlohnt, die sie nur in ausgewählten Geschäften gegen Lebensmittel, Kleidung und andere Güter eintauschen konnten. Der Kampf gegen diese Ausbeutungsverhältnisse leitete eine Phase der Organisation und des Widerstands der Bauern ein.

Viele der heutigen »Zonas de Reserva Campesina«, die die bäuerliche Wirtschaft, den Frieden und die soziale Gerechtigkeit fördern, gehen auf Bauernverbände dieser Zeit zurück. Dies verdeutlicht, dass die Agrarfrage seit jeher nicht nur von bewaffneten Gruppen, sondern von sozialen Bewegungen allgemein aufgegriffen wird. Die Bedeutung der Landfrage für die sozialen und bäuerlichen Kräfte steht im Zusammenhang mit dem Prozess der Demokratisierung der Grundbesitzstruktur und der Umverteilung des in der Landwirtschaft erwirtschafteten Einkommens. Das Ziel ist eine Reform, die es dem Staat und den Bauerngruppen, die zuvor kein Land besaßen, ermöglicht, am Einkommen der Landwirtschaft teilzuhaben. Diese Forderung besteht bereits seit 1920. Historisch gesehen führte die Gewalt gegen die Bauernschaft zu Organisationsprozessen, aus denen auch die Guerilla FARC-EP hervorging. Zu ihrem Gründungsmythos wurde die Bombardierung des widerständigen Dorfes Marquetalia. Auch die indigene Bewegung wurde verfolgt und fand einen bewaffneten Ausdruck in der bewaffneten Bewegung »Quintín Lame«. Was ich betonen möchte, ist, dass die Agrarreform und die Kämpfe um das Land ein Thema sind, das die gesamte kolumbianische Gesellschaft betrifft und über Erscheinungen wie die FARC-EP hinausgeht.

Andere Länder der Region haben mehr oder weniger weitreichende Agrarreformen durchgeführt. Wieso ist das in Kolumbien nie geschehen?

Die landbesitzende Klasse und die politische Elite in Kolumbien haben sich als äußerst widerstandsfähig gegen Umverteilungsmaßnahmen erwiesen. Im Gegensatz dazu war die landbesitzende Klasse in Brasilien eher zu einem Kompromiss bereit. Jeder Versuch einer Agrarreform in Kolumbien wurde mit einer Gegenreform beantwortet. Obwohl das erste Agrarreformgesetz von 1935 von einigen als konservativ angesehen wurde, enthielt es dennoch progressive Elemente, wurde jedoch bereits 1942 wieder abgeschafft. Im Jahr 1961 gab es einen ernsthaften Versuch einer Agrarreform in Kolumbien mit dem Gesetz 165. Dieses wurde jedoch durch einen Klassenpakt zwischen den Großgrundbesitzern der beiden traditionellen Parteien (Liberale und Konservative, jW) beseitigt. Die Grundbesitzerklasse in Kolumbien ist äußerst mächtig und hat es bisher immer geschafft, eine wirkliche Agrarreform zu verhindern.

Im Friedensabkommen zwischen dem kolumbianischen Staat und der ehemals größten Guerilla des Landes, FARC-EP, war eine umfassende Landreform ein zentraler Punkt. Was waren die wichtigsten Vereinbarungen, und was wurde davon bis heute umgesetzt?

Der erste Punkt des Abkommens ist eine integrale Landreform, die die Formalisierung von Landbesitz sowie die Einrichtung eines Landfonds umfasst, um Landlose und Kleinbauern zu unterstützen. Eine weitere Verpflichtung des Friedensabkommens betrifft die Auswahl bestimmter prioritärer Gemeinden für staatliche Interventionen zur lokalen Entwicklung. Sowohl die Regierung von Expräsident Juan Manuel Santos, die den Friedensvertrag unterzeichnet hat, als auch die nachfolgende Regierung von Iván Duque haben die Umsetzung des Abkommens vernachlässigt und im Fall von Duque gar sabotiert. Nun nimmt die aktuelle Regierung endlich die Erfüllung des Friedensabkommens in Angriff und geht bei ihren Plänen für eine Landreform über das damals Vereinbarte hinaus.

Worin unterscheidet sich denn Petros Vorhaben davon?

Die Agrarreform der Regierung unter Präsident Gustavo Petro hat ein breiteres Konzept, das nicht nur einige Gemeinden betrifft, sondern auch die fruchtbarsten und konzentriertesten Agrarflächen. Die nationale Regierung plant, das bestehende Agrarreformgesetz wiederaufzugreifen und eine koordinierte Umsetzung der umfassenden ländlichen Reform sowie anderer ländlicher Entwicklungsrichtlinien sicherzustellen. Ein wichtiger Schritt im Rahmen dieser Strategie ist die Festlegung von Schwerpunktregionen für die Agrarreform, die in Gebieten mit stark konzentriertem und brachliegendem Land wie der Karibikküste, dem mittleren Magdalena und dem Süden der Guajira liegen. Diese Gebiete sollen produktiver genutzt werden, um die Nahrungsmittelproduktion zu fördern. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass diese Bemühungen nicht nur die Umverteilung von Land, sondern auch die Förderung einer nachhaltigen und diversifizierten landwirtschaftlichen Produktion umfassen, die lokalen Bedürfnissen entspricht. Dies erfordert auch Investitionen in Straßen, Gesundheit und Bildung. Ziel ist, den Landbewohnern die Kontrolle über ihr Land und ihre Lebensgrundlage zurückzugeben und die rurale Entwicklung zu stärken.

Was erwarten Sie, wie weit die Regierung Petro mit ihrer Agrarreform kommen könnte, und worin liegen ihre konzeptionellen Grenzen?

Die Regierung verfolgt ihre weitreichende Landreformstrategie vorrangig an der Karibikküste, während die fruchtbaren Andentäler und Gebiete mit hoher Landkonzentration im Süden, wo viel Zuckerrohranbau stattfindet, unberührt bleiben. Dennoch wäre es ein bedeutender Fortschritt, wenn die geplanten Maßnahmen für die Karibikküste tatsächlich umgesetzt würden. Die Grenzen der Landreform sind vor allem politischer und historischer Natur.

Die Regierung hat sich für einen Verhandlungsansatz zur Agrarreform entschieden, was bedeutet, dass der freiwillige Verkauf und Kauf von Land zum üblichen Marktwert erfolgen soll, um es umzuverteilen. Die Hauptgrenzen liegen dabei in der Bereitschaft der Landbesitzer, ihr Land zu verkaufen, sowie in den finanziellen Ressourcen der Regierung und der Zeit, die ihr noch bleibt. Einige Großgrundbesitzer zögern, ihr Land zu verkaufen, selbst wenn sie es nicht produktiv nutzen, da sie dadurch die politische Macht verlieren würden. Mit anderen Worten: Die Durchführung einer Agrarreform an der kolumbianischen Karibikküste bedeutet in gewisser Weise die Entmachtung der regionalen politischen Elite.

Itayosara Rojas

ist eine kolumbianische Soziologin und Doktorandin am Internationalen Institut für Soziale Studien (ISS) der Erasmus-Universität Rotterdam. Im Rahmen eines Forschungsprojekts untersucht sie die Beziehungen zwischen Staat und Einwohnern im kolumbianischen Amazonasgebiet. Rojas hat eng mit der lokalen Bauernbewegung zusammengearbeitet und war an der Umsetzung des 2016 unterzeichneten Friedensabkommens zwischen kolumbianischer Regierung und der FARC-Guerilla beteiligt

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