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Aus: Ausgabe vom 12.03.2024, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Bauernproteste in Polen

Sündenbock Moskau

Polnische Regierung kündigt Embargo gegen kaum stattfindende Getreideimporte aus Russland an. Ziel: Protestierenden Bauern neuen »Gegner« zeigen
Von Reinhard Lauterbach
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Schreckgespenst EU: Polnische Bauern protestieren gegen den zollfreien Handel mit der Ukraine (Warschau, 27.2.2024)

Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk hat am Wochenende mit Vertretern der seit Wochen protestierenden Bauern verhandelt. Konkrete Ergebnisse gab es nach Presseberichten nicht, aber ein Teil der Organisatoren zeigte sich vorsichtig optimistisch – vor allem darüber, dass Tusk angekündigt hat, sich für eine Lockerung des »Green Deal«-Programms der EU einzusetzen, das die Umweltschäden infolge der industrialisierten Landwirtschaft reduzieren soll. In der Frage, wie weiter mit dem Import ukrainischer Agrarprodukte nach Polen umgegangen werden soll, blieb Tusk jedoch hart: Eine Sperrung der ukrainisch-polnischen Grenze werde es nicht geben.

Der »Agrargipfel« in Warschau war eine Reaktion darauf, dass in der vergangenen Woche die Bauernproteste in Polen erstmals in größerem Umfang gewaltsame Formen angenommen haben. Am Mittwoch waren – nach unterschiedlichen Angaben der Polizei und der Veranstalter – zwischen 30.000 und 150.000 Landwirte in die polnische Hauptstadt gekommen. Verstärkt wurden sie durch Aktivisten der Gewerkschaft »Solidarność« – und womöglich durch Provokateure, die auf den Straßen rund um das polnische Parlament Pflastersteine auf Polizisten warfen und Feuerwerkskörper zündeten. Etliche polnische Kommentatoren sehen hinter der Eskalation der Auseinandersetzung eine Strategie der Zuspitzung von seiten der früheren Regierungspartei PiS. Denn die »Solidarność« ist faktisch deren militanter Arm.

Parallel zu diesen Entwicklungen hat Tusk begonnen, den protestierenden Bauern einen neuen »Gegner« vorzuführen. Im Sejm sagte er letzte Woche, nicht das ukrainische Getreide verderbe den polnischen Landwirten die Preise, sondern russisches, das auf den polnischen Markt komme. Er kündigte auch an, die Regierung erwäge, sich dem Vorbild von Lettland anzuschließen und den Import von Agrarprodukten und Zubehör aus Russland und Belarus gänzlich zu verbieten. Bisher sind diese Warengruppen von der EU nicht sanktioniert worden, und das hat seinen Grund: So liefert allein Russland 20 Prozent der weltweiten Produktion von Kunstdünger, und auch in Belarus gibt es große Kalivorkommen. Die Preise für diese Vorprodukte sind relativ günstig, weil die russischen und belarussischen Anbieter von niedrigeren Energiekosten profitieren. Produzenten in der EU leiden dagegen unter den gestiegenen Erdgaspreisen – ein weiteres Beispiel dafür, wie sich der kollektive Westen mit den Sanktionen selbst ins Knie geschossen hat.

Faktisch würde ein Importverbot für russisches Getreide an der Lage der polnischen Landwirte wenig ändern. Denn im Vergleich zum ukrainischen Mais und Weizen, die in Polen »hängenbleiben«, obwohl sie eigentlich für den Export in Drittländer bestimmt sein sollen, sind die Importe aus Russland nicht nennenswert. Sie betrugen laut der polnischen Statistikbehörde 2022 und 2023 6.150 beziehungsweise 12.700 Tonnen – gegenüber Importen aus der Ukrai­ne im Umfang von etwa 2,5 Millionen Tonnen 2022 und immer noch etwa einer Million Tonnen 2023. Meldungen über den angeblichen Import von zwölf Millionen Tonnen Getreide aus Russland in die EU 2023 wurden im Februar von einer ukrainischen Regierungsagentur zur »Bekämpfung von Desinformation« verbreitet und erweisen sich im Lichte dieser Zahlen als ebensolche – frei erfunden.

Das eigentliche Problem für die polnischen Landwirte liegt nach Angaben polnischer Getreidehändler auf den Weltmärkten. Dort sind die Preise für Weizen und Mais nach dem Beginn des Ukraine-Krieges auf Rekordwerte gestiegen, inzwischen aber wieder mehr oder minder auf das Vorkriegsniveau gesunken. Der Preisanstieg 2022 führte dazu, dass viele traditionelle Getreideimporteure in Afrika und im Nahen Osten ihre Bezüge drastisch reduzieren mussten. Mit der Folge, dass – von Brotknappheit in den Zielländern abgesehen – die globalen Getreidehändler auf einem Teil der Ware sitzengeblieben sind. Das hat die Preise gedrückt, und die polnischen Bauern spüren das auch.

Russland versucht derweilen tatsächlich, durch Angriffe auf die Getreideexportinfrastruktur in der Ukraine deren Anteil am globalen Getreidemarkt zu reduzieren. Vorwürfe, Russland werfe »gestohlenes« ukrainisches Getreide auf den Weltmarkt und drücke damit die Preise, sind bisher nicht bewiesen worden. Die russische Landwirtschaft hatte ihren Export schon vor dem Krieg über Jahre hinweg gesteigert.

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