junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Sa. / So., 27. / 28. April 2024, Nr. 99
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Ausgabe vom 11.03.2024, Seite 15 / Politisches Buch
Imperialismus

Kolonialer Mord

Gerd Schumann hat eine Biographie Patrice Lumumbas als ein Kapitel des europäischen Kolonialismus geschrieben
Von Arnold Schölzel
15.JPG
Unvergessen: Menschen erinnern in Brüssel an Patrice Lumumba (21.6.2022)

Der kongolesische Regisseur Gilbert Balulu brachte 2015 den achtzigminütigen Dokumentarfilm »Kongo! Das Schweigen der Vergessenen« heraus. Darin schildert er den Krieg um Rohstoffe im Osten der Demokratischen Republik Kongo (DR Kongo), der seit Anfang der 1990er Jahre mit Duldung und fast völligem Schweigen des Westens von Ruanda und dessen ewigem Präsidenten Paul Kagame geführt wird. Nach Schätzungen gab es allein in den Jahren 1998 bis 2003 im »Afrikanischen Weltkrieg« mehr als fünf Millionen Tote, insgesamt in den vergangenen drei Jahrzehnten wahrscheinlich doppelt so viele. Ziemlich zu Beginn des Dokumentarfilms fragt der Sprecher: »Warum wurde der Kongo angegriffen?« Die Antwort lässt Balulu durch Fidel Castro geben, der in einem kurzen Redeausschnitt sagt: »Der Kongo ist reich an Gold, reich an Diamanten, reich an Platin.«

Die Muster imperialistischer Kriege ändern sich nicht. Das zeigt Gerd Schumann in seinem Buch »Patrice Lumumba«, das mehr als eine Biographie des ersten Ministerpräsidenten der DR Kongo ist. Der Autor verbindet die Lebensbeschreibung mit der Kolonialgeschichte des Gebiets, das 1885 von der Berliner Afrikakonferenz zwecks »Zivilisierung« in den »Privatbesitz« des belgischen Königs Leopold II. übergeben wurde. Der ließ das Gebiet und seine Menschen von Konzessionsgesellschaften rücksichtslos ausplündern.

Zusammenfassend lässt sich nach der Lektüre sagen: Was damals begann, ist nach 140 Jahren nicht zu Ende – im Gegenteil, manches kommt hinzu wie der Ökozid. Schumann: »Die neuen kolonialen Grenzen der Ökologie verlaufen nicht nur zwischen Nord und Süd, Kontinenten und Klimazonen. Ökologie und Ökonomie sind eineiige Zwillinge. Der globale Süden ist das Opfer einer untragbaren Weltordnung. Deren Verfasstheit erzeugt milliardenfaches Unrecht und verlangt nach Änderung.«

Dem Rassisten auf dem belgischen Thron ging es zunächst um Elfenbein, dann um Kautschuk. Wer von den Einheimischen nicht lieferte, wurde umgebracht oder verstümmelt: Für jeden abgegebenen Schuss mussten die Angehörigen der Kolonialtruppe eine abgehackte Hand vorweisen. Schumann zitiert einen Afrikanisten, laut dem die Bevölkerung des Kongogebietes in den 1880er Jahren auf 29 Millionen Menschen geschätzt wurde. Um den Ersten Weltkrieg herum waren es nur noch 8,5 bis elf Millionen (auch zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit 1960 lag die Bevölkerungszahl weit unter dem Stand von 1880).

Die »Kongogreuel« sorgten sogar bei den anderen Kolonialmächten für Unruhe. 1908 war die internationale Empörung so groß, dass der belgische Staat die Kolonie formell als »Belgisch-Kongo« übernahm. Bei der Zeremonie zur Unabhängigkeit des Kongo am 30. Juni 1960 pries der damalige belgische König Baudouin seinen Vorfahren, entschuldigt hat sich das Königshaus bis heute für nichts. Schumann fasst zusammen: »Belgien legte mit der weitgehenden Negierung des Aufbaus einer von Einheimischen beherrschten Infrastruktur und der Verhinderung von Qualifikationsmöglichkeiten durch Bildung und Hochschulbildung einen Grundstein dafür, dass auf seine achtzigjährige Herrschaft eine bis heute anhaltende über siebzigjährige Unterentwicklung, Gewalt und Völkermorde wie im ruandischen Kontext in Nordkivu folgten.«

Das war die Situation, in die Patrice Lumumba 1925 hineingeboren wurde. Schumann skizziert seinen schulischen und beruflichen Werdegang bei der Post und hebt eine Einrichtung hervor, die nur einem europäischen Kolonialistenhirn entsprungen sein konnte: 1954 wurde Lumumba »zum ›Évolué‹« (»Entwickelter« oder auch »fortgeschrittener Neger«) ernannt, so die offizielle Kategorisierung, »und damit Mitglied einer von den Belgiern aus der Bevölkerung heraus rekrutierten und der Herrschaft direkt unterstehenden Schicht Einheimischer«. Es handelte sich damals lediglich um 150 Kongolesen.

Lumumba widersprach König Baudouin am 30. Juni 1960 direkt in einer Rede, die Schumann als »Glanzstück des Antikolonialismus« bezeichnet und dokumentiert. Der Leser gewinnt den Eindruck, dass schon zu diesem Zeitpunkt das Todesurteil gegen ihn gefällt war, bevor US-Präsident Dwight D. Eisenhower formal die CIA anwies, den »Störenfried« zu beseitigen. Die erledigte das zusammen mit dem belgischen Geheimdienst und einheimischen Helfern am 17. Januar 1961. Als der Tod Lumumbas Anfang Februar 1961 bekanntwurde, gab es in Westeuropa einschließlich BRD freudige Genugtuung, weil ein »Kommunist« – damals ein Synonym für einen Antikolonialisten wie heute »Prorusse« – beseitigt war. Auf sogenannten Weihnachtsmärkten der BRD wird bis heute eine Flüssigkeit namens »Lumumba« (Kakao mit Schuss!) ausgeschenkt.

Schumann hat nach seinem Buch über »Kolonialismus und Neokolonialismus«, das kürzlich in zweiter Auflage erschien, erneut ein gerade wegen seiner nüchternen Schilderung packendes Bild eines Menschheitsverbrechens entworfen.

Gerd Schumann: Patrice Lumumba. Papyrossa, Köln 2024, 135 Seiten, 12 Euro

,

erhältlich auch im jW-Shop (www.jungewelt-shop.de)

2 Wochen kostenlos testen

Die Grenzen in Europa wurden bereits 1999 durch militärische Gewalt verschoben. Heute wie damals berichtet die Tageszeitung junge Welt über Aufrüstung und mediales Kriegsgetrommel. Kriegstüchtigkeit wird zur neuen Normalität erklärt. Nicht mit uns!

Informieren Sie sich durch die junge Welt: Testen Sie für zwei Wochen die gedruckte Zeitung. Sie bekommen sie kostenlos in Ihren Briefkasten. Das Angebot endet automatisch und muss nicht abbestellt werden.

Regio:

Mehr aus: Politisches Buch