junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Montag, 29. April 2024, Nr. 100
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Ausgabe vom 11.03.2024, Seite 10 / Feuilleton
Kino

Mit Dildos wedeln

Ethan Coens lesbische Roadmovie-Gangsterkomödie »Drive-Away Dolls« wirkt etwas aus der Zeit gefallen
Von Holger Römers
imago0413552078h.jpg
Was machen wir hier eigentlich? Marian (Geraldine Viswanathan, l.) und Jamie (Margaret Qualley) im Plothole

Man merkt es »Drive-Away Dolls« an, dass das von Tricia Cooke verfasste Drehbuch viele Jahre unrealisiert blieb. Im Kern handelt es sich nämlich um eine jener Exploitationfilmparaphrasen, mit denen einst Quentin Tarantino berühmt wurde und deren Beliebtheit um die Jahrtausendwende ihren Zenit erreichte. In diesem Fall schlägt sich die (Post-)Modernisierung vager filmhistorischer Vorbilder nicht zuletzt darin nieder, dass bei der genretypischen Mischung von Sex und Gewalt die lesbische Orientierung der Hauptfiguren so unumwunden herausgestrichen wird, wie das im US-amerikanischen Billigkino der 1970er Jahre kaum denkbar gewesen wäre. Derselbe Aspekt dürfte nun freilich die Ursache jener spürbaren Befangenheit sein, die der mit Cooke, der regelmäßigen Cutterin seiner Filme mit Bruder Joel, verheiratete Ethan Coen offenkundig empfand, als er das Drehbuch endlich verfilmte.

Tarantino mochte es sich noch leisten können, identitätspolitische Einwände an sich abperlen zu lassen, die etwa von schwarzen Aktivisten gegen den koketten Gebrauch des N-Wortes in seinen Dialogen vorgebracht wurden. Heutzutage ist einem heterosexuellen Mann, der einen ursprünglich unter dem Arbeitstitel »Drive-Away Dykes« firmierenden Film über lesbische Frauen inszeniert, eine derartige pampige Unbekümmertheit kaum mehr möglich. So ist wohl auch die Verkrampftheit zu erklären, die sich hier bei der Inszenierung von Sex und Gewalt jeweils gegensätzlich äußert.

Der 1957 geborene Coen, der bei den ersten Kollaborationen mit seinem drei Jahre älteren Bruder zunächst noch nicht als Koregisseur genannt wurde und bisher bloß eine Dokumentation über Jerry Lee Lewis in Alleinregie verantwortet hat, will offenbar vermeiden, dass sein spätes Solospielfilmdebüt als Altherrenphantasie ausgelegt werden könnte. Um diesbezüglich auf Nummer sicher zu gehen, lässt er zwar eine der beiden Protagonistinnen ständig ungehemmte sexuelle Lust proklamieren, diese aber nur unter der unschuldigen Hülle klamaukiger Übertreibung aufscheinen, wenn Jamie (Margaret Qualley) regelmäßig mit Dildos wedelt, laut stöhnt und Betten zum Quietschen bringt. Wenn die zweite Hauptfigur, die schüchterne Marian (Geraldine Viswanathan), in einer Jugenderinnerung an eine Nachbarin schwelgt, deren Sonnen­bad einst ihr sexuelles Erwachen anstieß, kommt die splitternackte Sachlichkeit dieser Rückblende wiederum – trotz stereotyp zum Voyeurismus einladender Schlüssellochperspektive – dem Sexualkundeunterricht erstaunlich nahe.

Mit dieser Befangenheit des Regisseurs ist vielleicht auch zu erklären, warum wir Zuschauer uns im Laufe der erfreulich kurzen Filmdauer nicht um Jamie und Marian zu sorgen brauchen, obwohl ihnen auf der gemeinsamen Fahrt von Philadelphia nach Tallahassee stets Gangster (Joey Slotnick, C. J. Wilson, Colman Domingo) auf den Fersen sind, deren Brutalität früh unterstrichen wird. Dass die beiden Frauen nie in Gefahr scheinen, selbst Opfer eines sadistischen Drehbuch- oder Regieeinfalls zu werden, macht sie selbstredend zu Ausnahmefiguren im zynischen Coen-Kino. Dasselbe gilt für die Streifenpolizistin Sukie (Beanie Feldstein), die zu Beginn des Films ihre Freundin Jamie wegen Untreue aus der gemeinsamen Wohnung wirft, was die wiederum veranlasst, ihre Bekannte Marian ungefragt beim Besuch von deren Oma zu begleiten. (Warum dem ungleichen Paar auf der Reise nach Florida zwei Koffer mit sehr verfänglichem Inhalt in die Hände fallen, ist indes schwer zu erklären, weil reichlich unlogisch.)

Dass er mit Barmherzigkeit gegenüber seinen Frauenfiguren jedem Verdacht der Misogynie vorbeugt, scheint der US-amerikanische Filmemacher aber partout dadurch kompensieren zu wollen, dass er die Coensche Misanthropie um so unterschiedsloser – und mithin witzloser – gegen alle übrigen, männlichen Figuren richtet, seien sie nun Gangster oder nicht. Um die so entstehenden Dissonanzen im Erzählton auszugleichen, streut die auch bei »Drive-Away Dolls« als Cutterin verantwortliche Cooke psychedelische Montagesequenzen ein, deren Sinn bis kurz vor Schluss schleierhaft bleibt. Um so bezeichnender ist, in welch starkem Kontrast zu diesem lärmigen, grellen Trubel die einzige wirklich gelungene Szene steht: wenn sich nämlich inmitten der grauen Tristesse eines Großraumbüros ein betont statischer Sketch abspielt, in dem der Witz einfach aus der leisen Monotonie folgt, mit der Marian den Flirt eines Kollegen abwehrt – und sich zugleich in semantischen Widersprüchen verfängt.

»Drive-Away Dolls«, Regie: Ethan Coen, USA 2023, 84 Min., bereits angelaufen

2 Wochen kostenlos testen

Die Grenzen in Europa wurden bereits 1999 durch militärische Gewalt verschoben. Heute wie damals berichtet die Tageszeitung junge Welt über Aufrüstung und mediales Kriegsgetrommel. Kriegstüchtigkeit wird zur neuen Normalität erklärt. Nicht mit uns!

Informieren Sie sich durch die junge Welt: Testen Sie für zwei Wochen die gedruckte Zeitung. Sie bekommen sie kostenlos in Ihren Briefkasten. Das Angebot endet automatisch und muss nicht abbestellt werden.

Mehr aus: Feuilleton