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Aus: Ausgabe vom 11.03.2024, Seite 8 / Ansichten

Blutige Illusionen

Papst für Verhandlungen im Ukraine-Krieg
Von Reinhard Lauterbach
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Friedensappell mit korporativen Interessen?: Papst Franziskus und Wolodimir Selenskij im Vatikan (13.5.2023)

An der Börse muss man manchmal seine »Verluste begrenzen«, also verkaufen, auch wenn man gerade keinen Gewinn damit macht. Man tut das, wenn man sich vor der Alternative sieht, jetzt begrenzte Verluste einzustecken oder später größere.

An diesem Punkt ist inzwischen ein Teil der westlichen Öffentlichkeit bei der Besprechung des Ukraine-Kriegs angekommen. Die vom Pentagon finanzierte Rand-Stiftung schreibt, der Ukraine laufe die Zeit davon, wenn sie nicht schnell mehr Waffen aus dem Westen bekomme; dafür aber, und das wissen die Autoren natürlich auch, obwohl sie es nicht aussprechen, gibt es objektiv-technische Hindernisse und politische in Gestalt des Vorwahlstreits zwischen Republikanern und Demokraten in den USA. Diesen Standpunkt hat jetzt, ins Allgemein-Menschliche gewendet, auch Papst Franziskus zum Ukraine-Krieg eingenommen. Man mag das auf der humanitären Ebene begrüßen, weil natürlich den Zivilisten im Kriegsgebiet nur zu wünschen wäre, dass es ein Ende hat mit dem Töten und Zerstören.

Aber Franziskus verbindet mit seinem Friedensappell natürlich auch das korporative Interesse seiner Kirche. Ihr unterstehen in der Ukraine die »Unierten« oder griechisch-katholischen Christen, die bei weitem nationalistischste aller christlichen Konfessionen in diesem Land – Stepan Bandera und viele weitere OUN-Faschisten der ersten Stunde waren nicht zufällig Söhne griechisch-katholischer Geistlicher. Franziskus kann sich ausrechnen, dass der Krieg auch von seinen Gläubigen nicht viele übriglassen würde, wenn er weitergeht. Ganz abgesehen davon, dass im Falle eines russischen Sieges die institutionelle Position der katholischen Kirche in der Ukraine mit Sicherheit geschwächt wäre. Daher sein Appell vom Wochenende, zu retten, was zu retten ist.

Auch politisch könnte einiges für einen Waffenstillstand und Verhandlungen jetzt sprechen. Eine um einen Teil ihres Territoriums reduzierte Ukraine bliebe immer noch ein antirussisches Bollwerk und hätte ein großes Potential für einen jahrzehntelangen Revanchismus. Entscheidend wäre in dieser Überlegung, dass Russland trotz eines militärischen Teilerfolgs politisch keine Ruhe an seiner Südwestgrenze bekäme. Das Ziel, für das der kollektive Westen die Ukraine zum Widerstand ermutigt hat, bliebe also gewahrt. Das Problem dabei ist, dass der Westen in diesem Fall nicht darum herumkäme zuzugeben, dass er mit seiner Strategie militärisch gescheitert ist. Und das würde seinem Anspruch zuwiderlaufen, weiterhin die Regeln der »regelbasierten Ordnung« zu bestimmen, weil er sie im Zweifelsfall militärisch durchsetzen könne.

Das soll nicht sein. Deshalb darf Wolodimir Selenskij weiter von einem Siegfrieden träumen: mit Russlands vollständigem Rückzug aus der Ukraine als Voraussetzung und anschließend diktierten Bedingungen wie Reparationen und Kriegsverbrecherprozessen. Blutige Illusionen.

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  • Leserbrief von Roland Winkler aus Aue (14. März 2024 um 15:04 Uhr)
    Der Papst hat als Stellvertreter Gottes für einiges Entsetzen unter deutschen PolitikerInnen gesorgt. Die Baerbock und Co. verstehen ihren Papst nicht mehr, heißt es. Sie erlauben sich sogar massiv Widerwort und Kritik an dem durchsichtigen Friedensappell des Oberhirten. Es geht eben ganz irdisch zu und auch der Überirdische ist offenbar von ganz irdischen Interessen gesteuert. Diesem Papst kann während seiner Amtsausübung zumindest nachgesagt werden, dass er sich mehrfach mit sozialen Appellen an die Welt und Politik gewandt hat. Er hat den Kapitalismus kritisiert, wie er Ausbeutung und Elend der Welt in ihren Ursachen nennt. Friedensbotschaften sind das Mindeste, was von einem Papst erwartet werden kann, soweit auch uns Ungläubigen die christliche Lehre nicht ganz unbekannt ist. Unsere ganz weltlichen Christen in deutscher Politik sehen das in ihrem Verständnis wieder einmal ganz anders. Kriege ist dem Segen Gottes, mit dem Gott mit uns und für mehr Krieg und Völkermord, das kennen die Deutschen zur Genüge. Wir kennen auch die Christenmenschen, die für ihren Glauben verfolgt, für ihren Friedenskampf und Antifaschismus gefoltert und gemordet wurden. Es ist leider wieder Zeit, die einen wie die anderen beim Namen zu nennen. Was ist an einer Baerbock, Merz, Klöckner und Co. christlich, die sich in größtem Bluteifer für mehr und mehr Krieg aussprechen, dazu die heiligen Gebote in den Dreck treten? Wo sind die Christenmenschen, die noch heute als christliche friedliche Revolutionäre gefeiert wurden und werden. Für Menschenrecht auf Frieden würden sie dringendst gebraucht, oder haben sie es nie ernst damit gemeint?
    Was ist davon zu halten, wenn Baerbock emotional den Papst über tote Kinder in der Ukraine belehrt, aber zu den Kindern in Gaza nichts annähernd zu sagen hat. Verlogene Heuchler, wie lange will sich ein Volk diese noch leisten oder gar wieder wählen?
  • Leserbrief von Wolfgang Schmidt aus Berlin (12. März 2024 um 14:49 Uhr)
    Die Artikel von Reinhard Lauterbach zum Krieg in der Ukraine habe ich immer mit großem Interesse und fast immer auch zustimmend gelesen. Seinen Vorbehalten gegen die pazifistischen Positionen von Papst Franziskus möchte ich aber entschieden widersprechen. Papst Franziskus hat nicht zum ersten Mal und auch nicht nur bezogen auf den Krieg in der Ukraine zu Vernunft und Frieden gemahnt. Vor Jahren hat er in einer Enzyklika verkündet, dass dieses (das kapitalistische) System tötet, Kriege hervorbringt und braucht.
    Tage vor der Aufsehen erregenden Äußerung des Papstes hatte ich in einem Leserbrief an das Neue Deutschland geschrieben: »Die geradezu beschwörende ständige Wiederholung der Forderung ›Putin darf nicht siegen!‹ blockiert ultimativ jegliche Überlegungen bezüglich einer Friedenslösung in der Ukraine. Dabei würde bereits ein bloßer Waffenstillstand nach koreanischem Muster das blutige Gemetzel in der Ukraine sofort beenden. Zugleich würde die immer wahrscheinlicher werdende Eskalation des Ukraine-Krieges zu einem Weltkrieg oder gar einem nuklearen Inferno verlässlich unterbunden.« (Diese Passage meines Leserbriefes wurde vom ND nicht veröffentlicht.)
    Aber auch die von Reinhard Lauterbach angebotene Sicht, dass Putin auf jeden Fall siegen müsse, führt letztlich dazu, dass der Krieg in der Ukraine mit all seinen Opfern und Risiken und gegen alle Vernunft immer weiter verlängert wird. Die Lage auf der koreanischen Halbinsel, wo keine der sich gegenüberstehenden Seiten Positionen aufgegeben hat, aber wenigstens die Waffen zum Schweigen gebracht und die vom Militär geschaffene reale Lage respektiert wird, ist dem jetzigen Zustand in der Ukraine bei Weitem vorzuziehen.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Hermann T. aus 29451 Dannenberg/E. (12. März 2024 um 00:03 Uhr)
    Ob R. Lauterbachs Motivforschung zu den richtigen Schlussfolgerungen kommt und der Papst tatsächlich »mit seinem Friedensappell natürlich auch das korporative Interesse seiner Kirche (…) an den ›Unierten‹ oder griechisch-katholischen Christen« verbindet, kann ich nicht beurteilen. Zahlenmäßig spielen sie laut Wikipedia keine große Rolle. Tatsache ist aber, dass Franziskus schon kurz nach der Eskalation des Konflikts im Februar 2022 recht eindeutig Stellung bezog: In einem Zeitungsinterview mit dem Mailänder Corriere della Sera, das am 3. Mai 2022 erschien, sprach er vom »Bellen der NATO an der Tür Russlands«, das möglicherweise ein Mitgrund für den Konflikt in der Ukraine sei. Damit weigerte sich das Oberhaupt der katholischen Kirche auf m. E. bemerkenswerte Weise, das westliche Narrativ von der Alleinschuld »Putins« an der militärischen Entwicklung zu akzeptieren. Er gab dem Westen mindestens ein Stück Mitverantwortung für die Eskalation des Konflikts, weil das Sicherheitsbedürfnis Russlands durch die NATO-Osterweiterung nicht berücksichtigt worden sei. Mein Vorschlag für die schnelle Beendigung des Leidens der Menschen in der Ukraine: Den TAURUS (Stückpreis eine Million Euro) binden sich die notorisch kriegsgeilen, mit Steuergeld ausgehaltenen Sesselkombattanten (Brugger, Hofreiter, Kiesewetter, Röttgen, Roth, Strack-Zimmermann und Wadephul) um den Hals. Und die Rüstungsrepublik Deutschland lernt katholisch und liefert papstgerecht ab sofort nur noch weiße Bettlaken zur Unterstützung der Ukraine. Das Stellvertretersterben fände endlich ein Ende (und der erfolgreiche Abschluss des Unternehmens Barbarossa würde so ein weiteres Mal vertagt).
  • Leserbrief von Holger K. aus Frankfurt (11. März 2024 um 18:10 Uhr)
    So viel Dreck am Stecken auch die katholische Kirche nun mal hat, andere monotheistische Religionen sind übrigens auch nicht (viel) besser, so muss indes die päpstliche Friedensinitiative gewürdigt werden. Erstaunlich ist es ja schon, dass ein Papst überhaupt den Mut und die Gesinnung für Frieden im ganz speziellen Fall aufbringt. Zuvor geschah das allermeist nur auf einer völlig abstrakten Ebene, so dass niemand der Herrschenden auf die Füße getreten, sie mithin nicht dingfest gemacht wurden. Das ist diesmal anders, der päpstliche Appell bleibt nicht ungehört, zumindest nicht in Lateinamerika, im romanischen Europa, den Philippinen und Teilen Schwarzafrikas. Aber auch in den Wertestaaten wird vielleicht mancher moralisierender Kriegseiferer nachdenklich werden, wenn selbst ein Kirchenoberhaupt nicht kriegslüstern auftritt. In den heutigen finsteren Zeiten wahrlich einer der wenigen Einzelfälle. Beschämend ist übrigens die Tatsache, dass im protestantischen Lager es flüsternd-leise in Sachen Friedensbekundung zugeht. Nun ja, diese Moralapostel/innen waren einst getreue Paladine des Hitler-Faschismus, von Ausnahmen abgesehen, während die katholische Kirche, universell ist, sie ja nun mal, da nie wirklich mehrheitlich mitmachten (siehe Widerstand gegen das Euthanasiegesetz), vom Papst in Rom mal abgesehen, der sich zu einem frevelhaften Konkordat hinreißen ließ, wohl aus einem ausgeprägten Antikommunismus heraus. Nun gilt es abzuwarten, welche Wellen die Botschaft aus Rom hervorrufen wird. In den westlichen Wertestaaten und ihren Vasallen ist man jedenfalls erzürnt. Unmut rief der Papst bereits schon einmal hervor, als er die bellende NATO als solche vor den Toren Russlands anprangerte. Nun »bellt« er erneut, so dass ihn manch Kriegstrommler wohl als wahren Hund bezeichnen dürfte.
  • Leserbrief von Ullrich-Kurt Pfannschmidt (11. März 2024 um 08:19 Uhr)
    Bezugnehmend auf den letzten Absatz: Was daran sind »Blutige Illusionen«? Nur zwei Beispiele: das Ende des Ersten und des Zweiten Weltkriegs. In beiden Fällen musste sich der Aggressor (damals Deutschland) aus den zeitweise eroberten Gebieten zurückziehen »und anschließend diktierte Bedingungen wie Reparationen und Kriegsverbrecherprozesse« akzeptieren. Warum soll es anderen Aggressoren besser ergehen?

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