Blutige Illusionen
Von Reinhard LauterbachAn der Börse muss man manchmal seine »Verluste begrenzen«, also verkaufen, auch wenn man gerade keinen Gewinn damit macht. Man tut das, wenn man sich vor der Alternative sieht, jetzt begrenzte Verluste einzustecken oder später größere.
An diesem Punkt ist inzwischen ein Teil der westlichen Öffentlichkeit bei der Besprechung des Ukraine-Kriegs angekommen. Die vom Pentagon finanzierte Rand-Stiftung schreibt, der Ukraine laufe die Zeit davon, wenn sie nicht schnell mehr Waffen aus dem Westen bekomme; dafür aber, und das wissen die Autoren natürlich auch, obwohl sie es nicht aussprechen, gibt es objektiv-technische Hindernisse und politische in Gestalt des Vorwahlstreits zwischen Republikanern und Demokraten in den USA. Diesen Standpunkt hat jetzt, ins Allgemein-Menschliche gewendet, auch Papst Franziskus zum Ukraine-Krieg eingenommen. Man mag das auf der humanitären Ebene begrüßen, weil natürlich den Zivilisten im Kriegsgebiet nur zu wünschen wäre, dass es ein Ende hat mit dem Töten und Zerstören.
Aber Franziskus verbindet mit seinem Friedensappell natürlich auch das korporative Interesse seiner Kirche. Ihr unterstehen in der Ukraine die »Unierten« oder griechisch-katholischen Christen, die bei weitem nationalistischste aller christlichen Konfessionen in diesem Land – Stepan Bandera und viele weitere OUN-Faschisten der ersten Stunde waren nicht zufällig Söhne griechisch-katholischer Geistlicher. Franziskus kann sich ausrechnen, dass der Krieg auch von seinen Gläubigen nicht viele übriglassen würde, wenn er weitergeht. Ganz abgesehen davon, dass im Falle eines russischen Sieges die institutionelle Position der katholischen Kirche in der Ukraine mit Sicherheit geschwächt wäre. Daher sein Appell vom Wochenende, zu retten, was zu retten ist.
Auch politisch könnte einiges für einen Waffenstillstand und Verhandlungen jetzt sprechen. Eine um einen Teil ihres Territoriums reduzierte Ukraine bliebe immer noch ein antirussisches Bollwerk und hätte ein großes Potential für einen jahrzehntelangen Revanchismus. Entscheidend wäre in dieser Überlegung, dass Russland trotz eines militärischen Teilerfolgs politisch keine Ruhe an seiner Südwestgrenze bekäme. Das Ziel, für das der kollektive Westen die Ukraine zum Widerstand ermutigt hat, bliebe also gewahrt. Das Problem dabei ist, dass der Westen in diesem Fall nicht darum herumkäme zuzugeben, dass er mit seiner Strategie militärisch gescheitert ist. Und das würde seinem Anspruch zuwiderlaufen, weiterhin die Regeln der »regelbasierten Ordnung« zu bestimmen, weil er sie im Zweifelsfall militärisch durchsetzen könne.
Das soll nicht sein. Deshalb darf Wolodimir Selenskij weiter von einem Siegfrieden träumen: mit Russlands vollständigem Rückzug aus der Ukraine als Voraussetzung und anschließend diktierten Bedingungen wie Reparationen und Kriegsverbrecherprozessen. Blutige Illusionen.
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Was ist davon zu halten, wenn Baerbock emotional den Papst über tote Kinder in der Ukraine belehrt, aber zu den Kindern in Gaza nichts annähernd zu sagen hat. Verlogene Heuchler, wie lange will sich ein Volk diese noch leisten oder gar wieder wählen?
Tage vor der Aufsehen erregenden Äußerung des Papstes hatte ich in einem Leserbrief an das Neue Deutschland geschrieben: »Die geradezu beschwörende ständige Wiederholung der Forderung ›Putin darf nicht siegen!‹ blockiert ultimativ jegliche Überlegungen bezüglich einer Friedenslösung in der Ukraine. Dabei würde bereits ein bloßer Waffenstillstand nach koreanischem Muster das blutige Gemetzel in der Ukraine sofort beenden. Zugleich würde die immer wahrscheinlicher werdende Eskalation des Ukraine-Krieges zu einem Weltkrieg oder gar einem nuklearen Inferno verlässlich unterbunden.« (Diese Passage meines Leserbriefes wurde vom ND nicht veröffentlicht.)
Aber auch die von Reinhard Lauterbach angebotene Sicht, dass Putin auf jeden Fall siegen müsse, führt letztlich dazu, dass der Krieg in der Ukraine mit all seinen Opfern und Risiken und gegen alle Vernunft immer weiter verlängert wird. Die Lage auf der koreanischen Halbinsel, wo keine der sich gegenüberstehenden Seiten Positionen aufgegeben hat, aber wenigstens die Waffen zum Schweigen gebracht und die vom Militär geschaffene reale Lage respektiert wird, ist dem jetzigen Zustand in der Ukraine bei Weitem vorzuziehen.