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Aus: Ausgabe vom 09.03.2024, Seite 3 (Beilage) / Wochenendbeilage

Heilige NATO

Von Arnold Schölzel
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Was war da los? Das fragt der frühere Leiter Münchner »Sicherheitskonferenz« und Botschafter a. D. Wolfgang Ischinger am Donnerstag unter der Überschrift »Europas Offenbarungseid« im Handelsblatt und zieht ein Wochenresümee: »Schwerer Ärger mit Frankreich, Vorwürfe aus London und von anderen Partnern, hü und hott innerhalb der Ampel, ja sogar offener Dissens in der TAURUS-Frage. Und dann auch noch die Abhöraffäre.«

Eine Antwort gibt der Exdiplomat nicht. Sie könnte lauten: Da war nichts los außer gewohnheitsmäßigem Krisen- und Kriegsgedöns – mit Ausnahme des deutschen Offizierskasinos, in dem erörtert wurde, wo und wie es möglichst schnell zum dritten Weltkrieg geht. Paris will nicht hinnehmen, dass deutsches Kapital und Olaf Scholz in EU-Europa die »Führung« beim Waffenliefern für Kiew und auch sonst übernommen haben. Die Briten kommen in Berlin kaum vor. Premier Rishi Sunak macht seit Amtsantritt vor bald 17 Monaten um Berlin einen großen Bogen. Scholz war als Kanzler einmal in London, Anfang April 2022. Zwei Tage später tauchte Johnson in Kiew auf und machte den unterschriftsreifen Waffenstillstandsvertrag zwischen Ukraine und Russland zu Makulatur. Vielleicht erfuhr Scholz das aus der Zeitung. Jetzt wollten einige in London seinen Rücktritt, weil er was über britische Soldaten in der Ukraine gepetzt hatte, was längst weltweit bekannt war.

Und »offener Dissens« in der Scholz-Administration? Das ist die Existenzweise der Ampel. Bleibt die »Abhöraffäre«, auf die Ischinger aber auch nicht eingeht, sondern behauptet: »Es geht also jetzt darum, die Aggression Russlands zu stoppen und die territoriale Integrität der Ukraine zu verteidigen, ohne selbst Krieg führen zu müssen. Aber wie?« Da der Hirnwurf von oben mal wieder ausbleibt, kommt Ischinger völlig überraschend zur »Lösung«: Also doch Krieg führen, aber so tun, als führe den allein Putin. Ischingers Angebot: erstens nicht den »nuklearen Schutzschirm« in Frage stellen, das wäre »Irrsinn«. »Wer meint, Deutschland könne sich nicht alles leisten, was Frankreich und England sich trauen, der provoziert Zweifel.« Also Scholz kein »Führer«, sondern ein Defätist, ein Zweifelsämann. Im übrigen, gibt ihm Ischinger mit auf den Weg, ist das Zweiprozentziel »allenfalls eine Untergrenze«. Zweitens: »Abschreckung ist Kriegsverhinderung.« Vor allem, wenn sie wie bei der NATO mit Erstschlagsdrohung und mit der Stationierung von US-Raketen in Polen und Rumänien zur Abwehr von Interkontinentalraketen aus Nordkorea und dem Iran verbunden ist. Letzteres ist derart albern, dass es in NATO-Kreisen selten öffentlich erwähnt wird, also von Ischinger auch nicht. Da herrscht Ruhe über die unentwegten völkerrechtswidrigen Kriege des Westens in der Nähe zu Russland oder die gesponserten im russischen Kaukasus seit 1991. Ischinger nun will endlich »den Spieß« umdrehen und schlägt vor, den Moskowitern herrenvolkmäßig mitzuteilen: »Sollte der Beschuss ziviler Ziele fortgesetzt werden, werden wir noch mehr und noch schwerere Waffen an die Ukraine liefern.« Dessen rühmt sich Scholz bereits. Drittens müssen laut Ischinger die Beziehungen zu Frankreich repariert werden, durch »kleine Gesten«. Weil die ja Macht- und Kräfteverhältnisse ändern.

Was ist also los? Deutsche Offiziere erörtern frisch-fröhlich die Wirkung eines Geschosses auf Russland, das laut Kanzler Moskau erreicht. Da muss Exdiplomat Ischinger jede Diplomatie gegenüber Russland verabschieden. Denn: »Schon mal darüber nachgedacht, dass die NATO eines der weltweit erfolgreichsten Instrumente im Kampf gegen die Verbreitung von Atomwaffen ist?«

Auf Ischingers Liste fehlt ein Punkt: die Heiligsprechung der NATO. Hat der Papst verpasst – nicht erst seit Februar 2022.

Was ist also los? Deutsche Offiziere erörtern frisch-fröhlich die Wirkung eines Geschosses auf Russland, das laut Kanzler Moskau erreicht. Da muss Exdiplomat Ischinger jede Diplomatie gegenüber Russland verabschieden.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf G. aus Hannover (10. März 2024 um 16:23 Uhr)
    Ischingers Beitrag demonstriert mehrfach die im Westen herrschende Irrationalität, etwa wenn er die Verlässlichkeit des atomaren Schutzschirms der NATO beschwört, ohne Trumps Gedanken an einen Austritt aus der NATO oder seine Drohung zu bedenken, Länder nicht zu verteidigen, die nicht ihren Beitrag zur NATO leisten würden. Von Ignoranz zeugt auch Ischingers Bemerkung, Russland würde zivile Ziele in der Ukraine beschießen – als ob von west nach ost fliegende Projektile keine zivilen Ziele treffen würden. Dazu kommt seine beweislose Behauptung, Russland wolle die Ukraine »eliminieren« und »frühere Warschauer-Pakt-Staaten wie Polen wieder zu russischen Pufferstaaten« degradieren. Von maßgeblicher Seite in Russland, d. h. von Putin, ist das so nirgendwo erklärt worden. Ischingers Ansicht, dass Abschreckung Kriegsverhinderung sei, ist indes nur für rationale Gegner zutreffend. Die Ukraine hingegen hatte sich von 200.000 vor der Ukraine zusammengezogenen russischen Soldaten nicht davon abschrecken lassen, im Überlegenheitswahn die Eskalation im Donbass bis hin zu 2.000 Waffenstillstandsverletzungen an einem einzigen Tag zu suchen und diese Gewalt mit atomaren Drohungen zu ergänzen. Derart Gewalt der Diplomatie vorzuziehen und bewusst die mühsam ausgehandelten Minsker Vereinbarungen völkerrechtswidrig zu missachten, ist kennzeichnend für die Aggressivität des Westens. Die NATO schafft sich mit ihrer Aggressivität und ihren Völkerrechtsbrüchen erst die Feinde, gegen die sie dann meint, sich verteidigen zu müssen. Ihre Doppelmoral ist beschämend: Sezession des Kosovo gut – Sezession des Donbass böse. Vertreibung der Krajina-Serben vergessen – Flucht von hunderttausenden Kosovoalbanern als Völkermord erinnert – millionenfache Flucht von Donbassrussen ist wiederum nicht der Erwähnung wert. Wenn wir nicht dahin kommen können, dass man bei der Wahrheit bleibt und gleiches Recht für alle gilt, dann wird es sehr, sehr schwer mit dem Frieden in der Zukunft werden.

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