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Aus: Ausgabe vom 09.03.2024, Seite 15 / Geschichte
Terrorismus

Große Ablenkung

Vor 20 Jahren wurden bei islamistischen Anschlägen in Madrid fast 200 Menschen getötet. Die spanische Regierung machte dafür die ETA verantwortlich
Von Carmela Negrete
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Terror. Opfer der Bombenanschläge vom 11. März 2004 in Madrid am Bahnhof Atocha

Zehn detonierte Sprengsätze in vier Vorortzügen in Madrid. 193 Menschen wurden in den Tod gerissen, mehr als 2.000 verletzt. Die Terroranschläge vom 11. März 2004 gehören zu den schlimmsten Attentaten auf europäischem Boden. 20 Jahre später kommen immer mehr Informationen ans Licht, die eine Vertuschung der damaligen spanischen Regierung unter dem Rechtskonservativen José María Aznar von der Volkspartei (PP) belegen. Wie nun bekannt gegeben wurde, zensierte das spanische öffentliche Fernsehen TVE damals sogar ein 40minütiges Interview mit dem damaligen US-Präsidenten George W. Bush. Denn Bush drückte indirekt in dem Gespräch sein Bedauern darüber aus, dass womöglich radikale Islamisten die Bomben in Madrid detonieren ließen.

Der Anschlag fand drei Tage vor den spanischen Parlamentswahlen statt, und Aznar fürchtete, dass die öffentliche Wahrnehmung zu einer Wahlniederlage seiner Partei führen würde, was sich letztendlich auch bewahrheitete. Aber warum musste seine Regierung ein schlechtes Image aufgrund der Taten von Terroristen fürchten? Die Antwort lautet, dass Spanien im Frühjahr 2003 an der illegalen Invasion in den Irak teilgenommen hatte, im Rahmen der sogenannten Koalition der Willigen, die von den Vereinigten Staaten unter der Führung von Bush sowie von Anthony Blair aus Großbritannien angeführt wurde. Die Anschläge wurden als Reaktion der islamischen Welt auf den zerstörerischen Krieg interpretiert, der mit Hunderttausenden Todesopfern eines der größten Verbrechen der jüngeren Geschichte ist. Aznar fürchtete, die Opposition könne die Unzufriedenheit der Bevölkerung nutzen, um ihn von der Macht abzulösen. So verbreitete die Regierung Aznar die Lüge, die Anschläge seien vom ärgsten Feind im Innern, der baskischen Untergrundorganisation ETA, verübt worden.

Bush zensiert

Pünktlich zum Jahrestag der Anschläge veröffentlichte das spanische Fernsehen TVE am vergangenen Dienstag das bisher unveröffentlichte Interview mit George W. Bush. Das Gespräch zwischen Bush und dem damaligen Korrespondenten Lorenzo Milá fand einen Tag nach den Zuganschlägen in Madrid statt. Milá erklärte nun in einem Interview, ebenfalls bei TVE, er sei sehr verwundert gewesen, dass das Interview damals nicht ausgestrahlt wurde. Der damalige spanische Botschafter, in dessen Residenz das Interview mit Bush aufgezeichnet wurde, erklärte ebenfalls am Dienstag, er habe damals die Information an die spanische Regierung weitergegeben, dass die CIA eben nicht die ETA hinter den Anschlägen vermutete. Das habe ihm Bush mitgeteilt. Doch die Regierungsmitglieder hielten tagelang an der ETA-Version fest.

Bush zog in dem Interview Parallelen zu den Anschlägen vom 11. September 2001 und erwähnte die Möglichkeit, dass es sich um islamistischen Terrorismus handeln könnte. »Ich erinnere mich, als unsere Bürger ihr Leben verloren. Ich erinnere mich an den Horror, die Empörung, die Wut und die unglaubliche Traurigkeit«, sagte er und betonte, dass »diese Leute töten, weil sie die Freiheit hassen und das, wofür Spanien steht«. Er erwähnte auch Aznars »Kampf gegen den Terror« und beschwor damit Geister, die die PP nicht wecken wollte.

Der Journalist Milá gab an, er sei ahnungslos gewesen: »Ich hatte nicht gedacht, dass es ein exklusives Interview sein würde, ich nahm an, auch andere Medienvertreter seien anwesend«, erklärte er am Dienstag. Doch dann war er allein mit dem Ehepaar Bush. »Jetzt verstehe ich, dass Bush der Version von der Täterschaft der ETA zu keinem Zeitpunkt Glauben geschenkt hatte. Er war informiert«, sagte Milá. Warum er selbst 20 Jahre lang zu diesem zensierten Interview geschwiegen hat, musste Milá nicht beantworten. Er genießt seit 2020 seine Rente.

Die Regierung lügt

Trotz Beweisen und Informationen der Geheimdienste belog die Regierung weiterhin die Bevölkerung. Alle Minister behaupteten hartnäckig, dass die ETA dahinterstecken musste, obwohl die spanische Polizei von Anfang an die Ermittlungen in Richtung der islamistischen Szene gelenkt hatte. Der damalige Innenminister Ángel Acebes erklärte am Tag der Anschläge, es habe »keinen Zweifel« gegeben. »Die ETA wollte ein Massaker in Spanien anrichten« und »hat ihr Ziel erreicht«. Auf Nachfrage betonte er: »Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Verantwortung bei der ETA liegt.« Später gab es eine offizielle Erklärung der Regierung, in der die Organisation nicht erwähnt, ihre Täterschaft aber suggeriert wurde. Außenministerin Ana de Palacio sandte ein Telegramm an die Vereinten Nationen, an Botschaften und Konsulate, in dem eine Urheberschaft der ETA behauptet wurde.

Bereits gegen Mittag, also nur wenige Stunden nach den Anschlägen, soll die Regierung Kenntnis davon besessen haben, dass der eingesetzte Sprengstoff nicht der Typ war, den die ETA üblicherweise nutzte. Inzwischen waren Ermittler auf einen gestohlenen Lieferwagen gestoßen, in dem sich sieben Zünder und ein Band mit Koranversen auf Arabisch befanden. Ein Bekennerschreiben von Al-Qaida, in dem von einer »Be­gleichung alter Rechnungen« mit Spanien die Rede war, wurde an die arabische Zeitung Al-Quds Al-Arabi geschickt. Doch am Abend behauptete ein Regierungssprecher in einem Interview bei TVE erneut, dass »alles darauf hindeutet, dass die Urheberschaft bei der ETA liegt«. Bereits am frühen Morgen des 12. März wurde ein Rucksack mit Dynamit und ein Telefon gefunden. Das Telefon führte zu ersten Festnahmen im islamistischen Milieu. Doch Aznar blieb bei der ETA-Version, sagte am Vormittag des gleichen Tages »nach 30 Jahren Terrorismus, bei einem Anschlag wie dem gestrigen«, sei die Schlussfolgerung, »dass diese Bande der Urheber« ist, »logisch und vernünftig«. Und der Innenminister bestätigte noch am Abend, dass sich »die maßgeblichen Ermittlungen gegen die ETA« richteten, obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits Hinweise aus den USA eingegangen waren.

Die Ermittlungen und späteren Untersuchungen zum Fall blieben voller Ungereimtheiten. Die zuständige Richterin Coro Cillán befindet sich heute in einer Psychiatrie in Palencia. Sie beschuldigt den wegen Korruption inhaftierten Kommissar José Manuel Villarejo, er habe ihr das Leben zur Hölle gemacht. Noch immer sind viele Fragen über den Fall offen.

Dokumentiert

Aus der Regierungserklärung von José María Aznar am 11. März 2004:

»Wir werden die terroristische Gruppe mit der Kraft des Rechtsstaates und der Einheit aller Spanier besiegen. Wir werden sie mit starken Gesetzen besiegen. Mit einem starken Sicherheitsapparat und mit Gerichten, die (…) entschlossen sind, das Gesetz anzuwenden. Die Verbrecher, die heute so viele Tote verursacht haben, werden festgenommen, vor Gericht gestellt und verurteilt werden. Sie werden ihre Strafen vollständig verbüßen und keinen anderen Horizont haben, als jeden Tag zwischen Gefängnismauern aufzuwachen. (…) Es gibt keine mögliche oder wünschenswerte Verhandlung mit diesen Mördern, die so oft Tod und Zerstörung über ganz Spanien gebracht haben. Und niemand sollte sich irren – nur mit Entschlossenheit können wir die Anschläge beenden. Eine Entschlossenheit, die sowohl im Kampf gegen den Terrorismus als auch im klaren Widerstand gegen die letzten Ziele, die die Terroristen erreichen wollen, präsent sein muss. Um diese Ziele zu verteidigen, fordert die Regierung die Spanier auf, sich morgen auf den Straßen aller Städte Spaniens zu zeigen. Unter dem Motto «Mit den Opfern, mit der Verfassung und für die Niederlage des Terrorismus» sind für morgen Freitag um 19 Uhr Demonstrationen in allen spanischen Städten einberufen worden. (…) Wir sind eine große Nation, eine große Nation, deren Souveränität in allen Spaniern liegt. Das spanische Volk entscheidet, und wir werden niemals zulassen, dass eine Minderheit von Fanatikern unsere Entscheidungen über unsere nationale Zukunft diktiert.«

Aussage des damaligen spanischen Botschafters in den USA, Javier Rupérez, bei TVE am 5. März 2024:

»Bush fragte mich, ob wir die Möglichkeit hätten, ein privates Gespräch zu führen. Wir gingen in mein Büro und Bush fragte mich, wer nach unserer Meinung Urheber der Anschläge sei. Ich sagte ihm, dass ich überzeugt sei, dass es die ETA war, (…) dann sagte er mir: ›Meine Dienste sagen mir, dass es vielleicht andere waren.‹ Ich habe es, wie du dir vorstellen kannst, notiert. (…) Meine Pflicht war es, Madrid anzurufen. Ich weiß nicht, ob ich direkt mit Aznar gesprochen habe, aber ich habe sicherlich direkt mit Moncloa (Sitz des Ministerpräsidenten, jW) gesprochen.«

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