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Aus: Ausgabe vom 09.03.2024, Seite 11 / Feuilleton
Staat und RAF

Die drei Buchstaben

Hatz auf RAF-Rentner: Über die serielle Produktion von Staatsfeinden
Von Gerhard Hanloser
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Wenn Herrschaft aggressiv wird: Solidaritätsdemonstration für RAF-Gefangene (Berlin, 1989)

Die bundesrepublikanische Gesellschaft ist gedächtnislos. Das zeigt sich immer wieder aufs neue und hat doch Kontinuität. Alles passiert plötzlich und ad hoc. Nichts hat eine Vorgeschichte oder gar einen Kontext. Auf diese zu reflektieren, würde den Moralüberschuss im medialen und politischen Bekenntnismanagement hemmen. »24. Februar« oder »7. Oktober« reichen manchen Zeitgenossen, um den dazu passenden Bekenntniscode abzuspulen, der an die dürren Formeln »völkerrechtswidriger Angriffskrieg« oder »Massaker durch die Hamas« anschließt.

Manchmal ist es kein Datum. Manchmal reichen auch drei Buchstaben. RAF zum Beispiel. Sie rufen Bilder von Gewalt und Terror auf. Den Bildern werden scheinwissenschaftliche Begriffe des Politischen zugeordnet: Linksterrorismus, Extremismus. Sie dienen nicht der Erkenntnis, sondern dem Voyeurismus, medial geschürten Affekten. »Aktenzeichen XY« aktiviert – wie seinerzeit unter dem die Angstlust bedienenden Eduard Zimmermann – den tief in die deutsche Psyche eingebrannten Hang zur Denunziation. Andere Medien erzählen lieber von Hunden, Capoeira, Müsli und freundlichen Nachbarn, begleiten Staatsrepression mit Rührstücken.

Die drei Buchstaben. Sie verweisen auf die Geschichte der BRD. Entstanden ist die RAF als Radikalisierungs- und Entmischungsprodukt der antiautoritären 68er Revolte. Mit den Weathermen in den USA oder den Roten Brigaden in Italien teilte sie den als dringlich empfundenen internationalistischen Aktivismus angesichts des Vernichtungskriegs der USA gegen den Vietcong in den späten 60ern. Ihr war allerdings auch das Spezifikum des deutschen Aufstands gegen die Nazigeneration eingeschrieben. Viele Opfer der Anschläge der sehr verschiedenen Gruppen der RAF verband, dass sie zwischen 1933 und 1945 auf der Täterseite standen. Der 1977 entführte und im unsinnigen Reflex der Rache ermordete ehemalige SS-Untersturmführer Hanns Martin Schleyer ragt hier besonders heraus. Aber selbst beim 1989 kalt liquidierten Deutsche-Bank-Vorstandssprecher Alfred Herrhausen, dessen Ermordung einer »dritten Generation« der RAF zugeschrieben wird, finden sich biographische Hinweise, dass er als Junge eine Naziausleseschule besuchte. Ist es ein Zufall, dass sich die Rote Armee Fraktion, ein die westdeutsche Linke eher hemmendes als beflügelndes Produkt der späten 60er, erst in einer Zeit auflöste, in der zum ersten Mal öffentlich über die Verbrechen der Wehrmacht diskutiert wurde, nämlich in den späten 90er Jahren?

Die RAF müsste folglich auch als Produkt der postfaschistischen BRD-Gesellschaft verstanden werden und hätte längst ordentlich historisiert werden müssen. Freilich in einer anderen Form als der sattsam bekannten, die die immer gleichen Bilder präsentiert und Anekdoten erzählt und diese zu Stereotypen gerinnen lässt. Von Zeitgeist und höchst aktuellem Interesse geformtes »Wissen« über die RAF ist mittlerweile massenhaft im Umlauf. Kaum jemand, der nicht nachplappern könnte, dass Andreas Baader ein brutaler Macho gewesen sei, narzisstisch prädestiniert war, wie man küchenpsychologisch zu ergänzen weiß. Kaum einer, der dem Protestforscher Wolfgang Kraushaar fundamental widersprechen mag, wenn er die »Wurzeln« des RAF-Terrorismus ausgerechnet im Antisemitismus ausmacht. Wer es genauer wissen wollte, also Quellen studieren würde und auch interpretieren könnte, käme vielleicht zu diametral entgegengesetzten Ergebnissen. Nämlich etwa, dass es sich bei Baader um den Prototyp eines »organischen Intellektuellen« handelte – ein Lieblingsbegriff der akademischen Linken – um einen auf der Höhe des Spätkapitalismus nämlich. Und dass Ulrike Meinhof und die Gründergeneration der RAF die von Adorno beschriebene Funktion des Antisemitismus als Medium zur Steuerung der Massen um radikale Konsumismuskritik erweitert und aktualisiert haben.

Das RAF-Gespenst wurde zum Erziehungsinstrument eines autoritären Staates. Intellektuelle und Künstler wie Heinrich Böll bekamen die Sympathisantenhatz bitter zu spüren. Seit 1972 diente die Stadtguerilla dazu, eine innere Souveränität der BRD durch die Konstruktion eines Staatsfeindes zu stiften, der gleichzeitig Volksfeind sein sollte. Dies erkannte der Altkommunist und neulinke Sozialpsychologe Peter Brückner, der übrigens ebenfalls der RAF-Nähe bezichtigt wurde, nur weil er kontextualisieren und begreifen wollte und sich staatstreuen Bekenntnisformeln widersetzte. In einem Gespräch von 1981 machte er deutlich, dass trotz eines antisemitischen wie antikommunistischen Potentials in Teilen der Bevölkerung und trotz eines 1977 hochschießenden Populismus, der die Stammheimer Gefangenen gerne abgeknallt gesehen hätte, ein gewisser Transmissionsriemen zwischen der herrschenden Klasse und der Bevölkerung fehlte. Oben und unten träfen und erreichten sich nicht mehr in dem Ausmaß und der Qualität, dass sich eine volksgemeinschaftliche Bewegung auf Dauer herstellen ließe.

Was 1981 galt, gilt heute in verschärfter Form. Staatsfeinde und Feindbilder werden seriell, teilweise ohne jede Kongruenz und im schnellen Wechsel produziert. Sie dienen als Negativfolie, um eine Treue zum Staat zu erzeugen, dessen »Delegitimation« ja schon in den Bereich des Verfassungsfeindlichen gerückt wird. Brückner, der wider allen Tatsachen zum Terrorsympathisanten erklärt wurde, hatte das seinerzeit erkannt. Und er gab den auch heute sehr treffenden Hinweis, dass sich die Friedensbewegung zum Feindbild des BRD-Staates, »wenn Herrschaft unkontrolliert aggressiv wird«, länger und tiefgehender eigne – weil sie mit ihrem antimilitaristischen Duktus besonders stört.

Brückner hatte ein politisches Personal vor Augen, das mit dem Eisernen Kreuz erster Klasse dekoriert war, auf Karrieren als Leutnant zur See oder Panzerkommandant zurückblickte. Heutzutage gibt es ein politisches Personal, das eilig militaristische Nachhilfe in Sachen TAURUS, »Leopard«, »Dachs« und »Marder« sucht. Die Altvorderen wurden direkt und traditionsreich vom Pazifismus herausgefordert, die Heutigen werden auch noch an ihre alten Utopien und Haltungen erinnert. Mit Aggressionssteigerung ist auf herrschender Seite also zu rechnen.

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  • Leserbrief von Manfred Gehrling aus Eilenburg (12. März 2024 um 15:06 Uhr)
    Hanloser versteigt sich im Artikel zu der Aussage: »Nämlich etwa, dass es sich bei Baader um den Prototyp eines –organischen Intellektuellen‹ handelte – ein Lieblingsbegriff der akademischen Linken – um einen auf der Höhe des Spätkapitalismus nämlich.«
    Nicht nur, dass hier ein »nämlich« zu viel ist. Der Satz ist ziemlich dämlich, und dem Lektorat einer marxistischen Tageszeitung unwürdig. Baader als »organischen Intellektuellen« im Sinne Gramscis zu bezeichnen, ignoriert so ziemlich alles, was marxistische Traditionen zu der Frage herausfand, welche Strategien in der Lage sind, die »dritte Sache« (Brecht) zu befördern. Exemplarische Morde sind es jedenfalls nicht. Baader war vieles, aber nicht einmal, wie die italienische »Lotta Continua« im Entferntesten in der Arbeiterklasse verankert.
    Hanloser, der sonst sehr nützliche Texte in linken Zeitschriften schreibt, hat hier ein Dokument unreflektierter Großmäuligkeit abgeliefert, das weit hinter die zeitgenössische marxistische Kritik der RAF zurückfällt.
    • Leserbrief von Gerhard Hanloser aus Berlin (16. März 2024 um 18:30 Uhr)
      Danke für die Kritik. Doppeltes Aber: Baader war ein organisches Gewächs der antiautoritären Revolte von 1968, der »organische Intellektuelle« Gramscis diente bislang vielen mehr oder weniger begabten, meist opportunistischen Geistern sich ein Pöstchen am Rand oder in einer linken Partei zu ergattern. Das meinte ich nämlich. Wenn es großmäulig klang, dann war es in der Tat dämlich. Dies gilt allerdings auch für die Mehrzahl der »zeitgenössische(n) marxistische(n) Kritik der RAF«. Aber das ist ein anderes Thema und war in diesem Feuilletontextchen nicht meines.

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