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Aus: Ausgabe vom 09.03.2024, Seite 10 / Feuilleton
Kino

Besondere Bedürfnisse

Alle Klippen umschifft: Léa Todorov zeigt die Reformpädagogin Maria Montessori als tapfere Neuerin und klammert politische Probleme aus
Von Ronald Kohl
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»Wenn ich als Frau Ärztin werden konnte, gibt es auch Hoffnung für diese kleinen Idioten.« – Maria Montessori (Jasmine Trinca), hart, aber fürsorglich

»Ich selbst habe eine Tochter, die besondere Bedürfnisse hat«, sagte die französische Regisseurin und Drehbuchautorin Léa Todorov in einem der Interviews, die sie zum Filmstart von »Maria Montessori« gegeben hat. Bei den Worten »besondere Bedürfnisse« deutete sie mit den Fingern Gänsefüßchen an und fuhr fort: »Somit habe ich diese Erfahrung, dass man es doch immer schafft, etwas zu lehren. Und jetzt, weil wir so viel mit ihr gearbeitet haben, geht sie in eine normale Schule und lernt lesen.«

Eine der politischen Aussagen des Films ist der Kampf der titelgebenden Pädagogin (Jasmine Trinca) um die Förderung der von ihren Familien und der Gesellschaft vernachlässigten und im Grunde längst abgeschriebenen Kinder. Als stellvertretende Leiterin einer Tagesschule mit angeschlossenem Internat kämpft sie um staatliche Gelder. Die Männer, die darüber entscheiden, würden heutzutage vielleicht sogar die weitere Finanzierung bewilligen – freilich vor allem, um die junge Frau scheitern zu sehen. Damals, zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, war es schlimmer. Die einzige Frage war, wem sie noch weniger zutrauten, den Kindern oder der Lehrerin, die den Herren anlässlich einer Schulbesichtigung schließlich versichert: »Wenn ich als Frau Ärztin werden konnte, gibt es bestimmt auch Hoffnung für diese kleinen Idioten.«

Wenige Tage später bekommt die Schule, die sich in Rom befindet, noch einmal Besuch. Eine junge, sehr elegant gekleidete Dame, die extra aus Paris angereist ist, möchte hier ein Kind abgeben. Lili d’Alengy (Leïla Bekhti) ist ein gefeierter Star, wenn auch einer, der nie existiert hat. In »Maria Montessori« ruiniert sie reihenweise ihre Verehrer, zumeist sehr vermögende Herren, was auch aller Welt bekannt ist. Von ihrer »zurückgebliebenen« Tochter jedoch darf niemand etwas erfahren. Maria Montessori lehnt es rundweg ab, das Kind einfach so aufzunehmen: »Wir sind hier kein Waisenhaus.« Bevor überhaupt an eine Betreuung zu denken sei, müsse ihr Entwicklungsstand und ihre Eignung festgestellt werden. Das bedeutet zunächst: wiegen und messen, auch den Schädel.

Derzeit toben in den Medien einige Gefechte hinsichtlich der Frage, wie das Verhältnis zwischen Maria Montessori und dem Faschismus denn nun wirklich ausgesehen hat. Mein letzter Eindruck war der, dass ihre »Fans« einiges an akademischem Boden gutmachen konnten. Für die Bewertung des Films ist die Frage aber kaum von Belang. Die Regisseurin lässt die Handlung noch vor Beginn des Ersten Weltkriegs spielen. Dennoch hat sie die ab 1918 stattgefundene Korrespondenz zwischen Montessori und Mussolini gelesen und weiß auch, dass Montessori mit ihm »irgendwie kollaboriert hat« (wieder Gänsefüßchen), wie sie im Interview sagt,»weil sie dachte, dass alle Schulen in Italien Montessori-Schulen sein könnten«. Doch wäre dies, wie Léa Todorov einräumt, ein Irrtum gewesen: »Der Faschismus war stärker als Montessori, damals.«

Trotz der üblichen fiktionalen Freiheiten und der Umschiffung heikler politischer Klippen ist der Film zeitgeschichtlich aufschlussreich. Er zeigt eine Frau, die neue Ideen umsetzt, auch wenn sie selbst sich von etlichen althergebrachten Vorstellungen nicht befreien kann. Doch das sind ohnehin nur die gegebenen Umstände. Was den Film ausmacht, ist die wachsende Zuneigung der Pariser Tingeltangeldame für ihre Tochter. Außerdem sind da noch die oft bissigen, manchmal zynischen, doch immer äußerst scharfsinnigen Dialoge zwischen den beiden Protagonistinnen. Und schließlich die Art und Weise, wie Maria Montessori am Ende doch noch die Anerkennung ihres erzreaktionären Vaters erfährt. Mit nur einem einzigen Satz, der Vater spricht während des gesamten Films auch nur ihn, wird alles aufgelöst: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Doch sehen Sie selbst. Das gehört zur Methode.

»Maria Montessori«, Regie: Léa Todorov, Frankreich/Italien 2023, 101 Min., bereits angelaufen

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