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Aus: Ausgabe vom 09.03.2024, Seite 8 / Inland
Obdachlosigkeit im Saarland

»Zurückfahren des sozialen Wohnungsbaus rächt sich«

Saarland: Forschungsgruppe legt erste Ergebnisse für Wohnungslosenbericht vor. Ein Gespräch mit Dieter Filsinger
Interview: Kristian Stemmler
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Schlafplatz eines Obdachlosen in Berlin-Steglitz

Mit Ihrer Forschungsgruppe erstellen Sie derzeit den ersten Wohnungslosenbericht für das Saarland. Wie kam es dazu?

Es gab diverse Anlässe. So war es, wie häufig beim Thema Obdachlosigkeit, zu Konflikten in der Innenstadt von Saarbrücken mit Anwohnern et cetera gekommen. Deshalb war das Thema politisch aufgeladen. Die Politik hat reagiert und das Thema aufgegriffen. Sicher spielte auch eine Rolle, dass die Sensibilität in der Landesregierung mittlerweile deutlich zugenommen hat. Das Ministerium für Arbeit, Soziales, Frauen und Gesundheit hat daher der von mir geleiteten Forschungsgruppe den Auftrag erteilt, den ersten Wohnungslosenbericht für das Saarland zu erstellen.

Bei einer Fachtagung hatten Sie erste Ergebnisse Ihrer Untersuchung vorgestellt. Wie sehen die aus?

Über die Befragung von Einrichtungen der Obdachlosenhilfe sind wir zu einer vorläufigen Abschätzung der Zahl der Wohnungslosen ohne Unterkunft gekommen. Demnach leben zwischen 71 und 132 Obdachlose im Saarland auf der Straße, etwa ein Viertel davon Frauen. Dabei überwiegen die Altersgruppen der 25- bis unter 40jährigen sowie der 40- bis unter 60jährigen. Hinzu kamen im vergangenen Jahr 2.805 untergebrachte wohnungslose Menschen. Das waren vor allem wegen der hohen Zahl von Flüchtlingen aus der Ukraine knapp 2.000 mehr als 2022.

Die Zahl der Menschen, die im Saarland auf der Straße leben, erscheint im Vergleich zu Metropolen wie Hamburg oder Berlin eher gering.

Dazu muss man sagen: Es gibt noch eine Dunkelziffer, aber wir sind schon ziemlich sicher, dass wir die meisten erreicht haben. Wenn man jetzt mal die Stadt Luxemburg als Vergleichspunkt nimmt, die ein noch größerer Anziehungspunkt für obdachlose Menschen ist: Dort wurden 197 obdachlose Menschen im Jahr 2022 gezählt. Insofern ist unsere Zahl gar nicht so niedrig. Zu bedenken ist, dass Saarbrücken quasi ein Hotspot ist.

Man könnte also sagen, dass Saarbrücken bei dem Thema ganz gut dasteht?

Insgesamt schon. Was man für Saarbrücken sagen kann, ist, dass es doch über eine insgesamt recht gute soziale Infrastruktur verfügt. So haben wir traditionell seit den 1970er, 1980ern eine starke Gemeinwesenarbeit.

Sie haben dennoch bei der Vorstellung der Ergebnisse von einem »deutlichen Handlungsbedarf« gesprochen und die Sorge für ausreichend bezahlbaren Wohnraum als zentral bezeichnet.

Wir haben ja in ganz Deutschland das Problem, dass bezahlbarer Wohnraum zu knapp ist. Und insofern ist das eine zentrale Voraussetzung zur Bewältigung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Die Fehler der Vergangenheit, also dass der soziale Wohnungsbau zurückgefahren wurde, das rächt sich auch im Saarland. Aber in dem Bereich soll jetzt was getan werden. So soll ein Wohnraumsicherungsgesetz auf den Weg gebracht werden. Das Problem ist, dass es sich um eine mittel- und langfristige Aufgabe handelt und ordentlich Geld kostet.

Eine weitere Empfehlung ist, dass das Angebot für obdachlose Menschen bedarfsorientierter ausgerichtet werden soll. Was heißt das konkret?

Im Grunde genommen zeigt sich, dass die Infrastruktur nicht hinreichend auf die jeweiligen Belange ausgerichtet ist. Deshalb wird vorgeschlagen, zum Beispiel Frauenschlafstellen zu errichten und vor allem mehr auf junge Obdachlose zuzugehen. Der Bereich ist noch sehr unterentwickelt.

Eine zentrale Rolle spielt auch das Konzept »Housing first«. Was ist darunter zu verstehen?

Bei »Housing first« steht die Zuteilung einer Wohnung am Anfang, und dann sollen die Probleme des Betroffenen bearbeitet werden. Früher ging man eher davon aus, dass eine Wohnung am Ende steht, wenn alle andere Hilfen gegriffen haben. Es gibt zu dem Konzept bereits Evaluationen, die zeigen, dass es ein erfolgversprechendes Modell ist. Auch in Saarbrücken läuft dazu schon ein Modellversuch. Wir sind noch dabei, es zu prüfen, aber die ersten Ergebnisse scheinen für einen Erfolg zu sprechen.

Dieter Filsinger leitet die Forschungsgruppe für Bildungs-, Evaluations- und Sozialstudien an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des ­Saarlandes

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