4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 08.03.2024, Seite 14 / Medien
Agenda-Setting

»Sonst dominieren die drei Ks«

Der globale Süden kommt in der »Tagesschau«, wie in den meisten deutschsprachigen Medien, nur im Zusammenhang mit westlichen Interessen vor. Gespräch mit Ladislaus Ludescher
Von Alexander Reich
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Anzahl der Berichte, in denen die jeweiligen Länder im Jahr 2023 in der »Tagesschau« erwähnt wurden

Es ist ein Ergebnis Ihrer neuen Studie, dass die »Tagesschau« um die Jahreswende 2023/24 binnen Wochen mehr über den Jemen berichtet hat als in den gesamten fünf Jahren zuvor. Dabei herrschte in den Jahren zuvor im Jemen die laut UN »schlimmste humanitäre Krise weltweit«. Erst die Angriffe auf Handelsschiffe im Roten Meer machten die Situation in dem Land »nachrichtenrelevant«. Weil sich »Tagesschau«-Gucker erst für Massenelend interessieren, wenn es ihren Einkauf teurer zu machen droht?

Das ist sehr pointiert ausgedrückt. Es lässt sich aber in der Tat nicht leugnen, dass erst die letztlich gegen Israel gerichtete Bedrohung der Handelsschiffahrt durch die »Huthis« zu einer erhöhten Aufmerksamkeit geführt hat. Eine grundsätzliche Frage ist, ob die Zuschauerinnen und Zuschauer sich vorher für Kriegsereignisse im Jemen nicht interessiert haben oder ob die Redakteure der »Tagesschau« der Ansicht waren, dass sich die Zuschauerinnen und Zuschauer hierfür nicht interessieren würden. Hierbei handelt es sich um eine »Zirkelfrage«: Menschen können sich ja erst für etwas interessieren, von dem sie wissen. Ich habe die Hoffnung, dass die Menschen sich durchaus für Krisengebiete im globalen Süden interessieren würden, wenn die Nachrichten hierüber mehr und insbesondere konsequent berichten würden.

Kaum erwähnt wurden in der »Tagesschau« auch Millionen Kriegsflüchtlinge im Sudan, heißt es in Ihrer Studie. Oder der »tödlichste Krieg des 21. Jahrhunderts« von 2020 bis 2022 in Tigray (Äthiopien). Alle drei Krisenregionen zusammengenommen hatten über die Jahre weniger als ein Prozent der Sendezeit des jeweiligen Topthemas Pandemie oder Ukraine. Wie haben Sie diese Zahlen ermittelt?

Ich habe mir alle Sendungen der »Tagesschau« dieser Jahre angeschaut und gemessen, wie viele Berichte beziehungsweise Sekunden Sendezeit für die jeweiligen Themen aufgebracht wurden.

So borniert die Gewichtung der reichweitenstärksten deutschen Nachrichtensendung anmuten mag – die Daten seien »repräsentativ für die meisten deutschsprachigen Medien«, steht in der Studie. Was sind die Ausnahmen?

Eine Konstante meiner Untersuchungsergebnisse ist, dass kaum ein Medium mehr als 15 Prozent seiner Sendezeit oder Seitenzahlen für den globalen Süden aufbringt, obwohl dort etwa 85 Prozent der Weltbevölkerung leben. In der Regel liegen die Zahlen der Berichterstattung über den globalen Süden sogar deutlich darunter. In der »Tagesschau« waren es 2022 zum Beispiel etwa elf Prozent, in Boulevardmedien wie Bild lag die Quote sogar nur bei etwa drei Prozent. Signifikante Ausnahmen unter den Medien, die ich ausgewertet habe – die junge Welt gehörte nicht dazu – sind die Taz und insbesondere das »Arte Journal«, das bis zu einem Drittel seiner Sendezeit für Berichte über Ereignisse im globalen Süden verwendet. Hier ist positiv hervorzuheben, dass sich das »Arte Journal« auch die Zeit nimmt, um über Kultur und positive Ereignisse im globalen Süden zu informieren. Sonst dominieren in der Berichterstattung von dort ja die sogenannten drei Ks – Kriege, Krankheiten, Katastrophen –, was die Gefahr von Fatalismus und Einseitigkeit in sich birgt. Leider hat das »Arte Journal« nur einen Bruchteil der Zuschauerzahlen der »Tagesschau«.

Gehen die Schwerpunkte der »Arte Journal«-Redaktion nicht einfach auf französische Interessen an ehemaligen Kolonien zurück?

Die Gebiete der ehemaligen französischen Kolonien, insbesondere in Afrika, spielen im »Arte Journal« tatsächlich eine größere Rolle. Allerdings ist der Blick nicht hierauf beschränkt. So wurde zum Beispiel deutlich umfangreicher über den Bürgerkrieg im Sudan oder die Kämpfe zwischen Rebellen und der Militärjunta in Myanmar berichtet als in den anderen untersuchten Medien. Auch die Lage im Bürgerkriegsland Jemen war im »Arte Journal« lange vor den Angriffen der »Huthis« auf Handelsschiffe im Roten Meer ein wiederkehrendes Thema. In der Nachrichtensendung sind Themen des globalen Südens mit einer gewissen Regelmäßigkeit sogar die Topmeldung des Tages – etwas, was in der »Tagesschau« zum Beispiel nur sehr selten der Fall ist.

Die Studie kann unter kurzelinks.de/nachrichtenrelevanz abgerufen werden

Ladislaus Ludescher ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. und Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Universität Mannheim

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (7. März 2024 um 21:14 Uhr)
    Die von westlichen Werten geprägten deutschen Medien neigen dazu, sich selbst als den »Nabel« der Welt zu betrachten. Diese Perspektive hat jedoch längst an Gültigkeit verloren. Dennoch vermitteln die Medien weiterhin den Eindruck, dass die Herausforderungen des Westens die Herausforderungen der Welt repräsentieren, während die Probleme der globalen Südregionen nicht als Angelegenheiten des Wertewestens betrachtet werden.

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