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Aus: Ausgabe vom 08.03.2024, Seite 12 / Thema
Managementstrategien

Im Hamsterrad

Das »Projekt« als belastende Form der Arbeitsorganisation im Kapitalismus
Von Hermann Bueren
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Ich dreh’ am Rad. Projektarbeit unter kapitalistischen Bedingungen bedeutet mitnichten, dass die abhängig Beschäftigten autonome Subjekte ihrer eigenen Arbeitshandlungen sind

Irgendwann, so stellte Guillaume Paoli im Rückblick auf die Zeit vor der Jahrtausendwende fest, »fingen alle an, ob Künstler, Manager, Politaktivisten, Spekulanten, Studenten, Existenzgründer oder Kleinkriminelle, von sich zu behaupten, sie seien an einem ›Projekt‹ bzw. an einer Anzahl von Projekten beteiligt.«¹ Den inflationären Gebrauch des Wortes als bloße Floskel oder als Modeerscheinung zu betrachten, fuhr der französisch-deutsche Philosoph und Schriftsteller in einem Blogbeitrag fort, sei aber verharmlosend. Denn das gehe an der Realität genauso vorbei wie die Beschwichtigung, Menschen hätten schon immer Projekte im Sinne von »Vorhaben« gehabt. Vielmehr, so ordnete er seine Beobachtung zutreffend ein, handele es sich um einen bedeutenden Wandel sozialer Aktivität, mehr noch: Das Projekt werde zur »dominanten Form menschlicher Aktivität« und signalisiere den Durchbruch oder Anbeginn einer neuen Form der Organisation von menschlicher Arbeit im Kapitalismus. »Auch in meinem Freundeskreis«, stellt Paoli fest, »wimmelte es nur so von Projekten. Alle waren Projektmacher geworden und nahmen nicht einmal wahr, wie neuartig diese Situation war.«²

Seine Beobachtungen über die arbeitenden Menschen seiner Umgebung und deren Offenheit gegenüber der neuen Arbeitsform hat der Autor nicht datiert. Aber vermutlich handelt es sich um die 1990er Jahre. Denn zu dieser Zeit tauchten Projekte als neue Arbeitsform am Firmament der kapitalistischen Arbeitsorganisation auf. Zunächst hatten sie in den Unternehmen allerdings Seltenheitswert. Sie wurden abteilungsübergreifend gebildet, wenn schwierige, einmalige oder neuartige Aufträge zu bearbeiten waren. Waren diese Aufträge erledigt, wurde die Projektgruppe wieder aufgelöst. Die Mitglieder gingen dann wieder zurück in ihre Abteilungen oder Fachbereiche, denen sie zugeordnet waren und taten das, was damals die tägliche Arbeit ausmachte: die Bearbeitung wiederkehrender Aufgaben auf der Grundlage von Arbeitsplatz- oder Stellenbeschreibungen.

Machen wir einen Zeitsprung in die Gegenwart. In Juli Zehs Roman »Über Menschen« (2021) findet sich eine Projektmacherin. Sie heißt Dora und arbeitet in einer Berliner Werbeagentur. Mitten im Lockdown flieht sie aus der Großstadt in ein kleines brandenburgisches Dorf, wo sie ein Haus mit Gartengrundstück erworben hat. Beim Anlegen eines Gemüsegartens macht sie sich Gedanken über ihre Arbeit. Von Freude, geschweige denn Zufriedenheit über ihre Projekte ist in ihren Gedanken nichts zu spüren. Statt dessen wirft sie einen nüchternen, geradezu distanzierten Blick auf die Endlosschleifen von Projektarbeit, die kein Ende zu nehmen scheinen. »Man beendet ein Projekt, um gleich darauf das nächste anzufangen. Für eine Weile glaubt man, das aktuelle Projekt sei das Wichtigste auf der Welt, man tut alles dafür, um es rechtzeitig und so gut wie möglich zu beenden. Nur um dann zu erleben, wie alle Bedeutung im Moment der Fertigstellung kollabiert. Gleichzeitig beginnt das nächste, noch wichtigere Projekt.«³ Längst ist die Unsinnigkeit der eigenen Arbeit auch unter ihren Kolleginnen und Kollegen ein Thema, das »an jedem Kaffeeautomaten, in jedem Fahrstuhl, auf jeder Etage der Bürotürme heimlich umgewälzt wird.« Wer sich aber selbst diese Unsinnigkeit eingestehe, laufe Gefahr, einen Burnout zu erleiden. »Gleichzeitig dreht sich das Rad immer schneller. Als könnte man der Unsinnigkeit des Rennens durch Schneller-Rennen entkommen.«⁴

Doras Gedankengänge über ihre Arbeit in der Agentur geschehen vor dem Hintergrund einer Arbeitsorganisation, in der das Projekt zum Normalzustand der täglichen Arbeit geworden ist. Vom Neuerungs- oder Ausnahmecharakter früherer Tage ist nichts übriggeblieben, Projekt folgt auf Projekt. So entsteht eine Tendenz sich steigender Leistungsintensität, die von den in einem Projekt Arbeitenden eine stetige Mobilisierung ihrer emotionalen, kognitiven und fachlichen Ressourcen einfordert. Das steigende Niveau von Anforderungen bestimmt den Arbeitsalltag des Projektes. Angesichts des Leistungsdrucks und der Notwendigkeit permanenter Selbstmobilisierung wächst die Gefahr von Überforderung, innerer Erschöpfung und Antriebslosigkeit. Doras Gedanken bewegen sich folglich zwischen Sinnverlust und Selbstzweifel.

Zwischen der verhaltenen Freude und dem Optimismus, die die Mitmenschen Paolis in der Einstellung zu ihrer Arbeit im Projekt erkennen ließen, und Juli Zehs Projektarbeiterin, aus deren Haltung Ernüchterung und Frusterleben sprechen, liegen nicht nur mehr als 30 Jahre, sie unterscheiden sich auch in der Haltung zu dieser Arbeitsform wie Tag und Nacht. Warum aber ist der Blickwinkel auf diese Arbeitsform heute ein anderer als vor drei Jahrzehnten? Welche Veränderungen in der kapitalistischen Arbeitsorganisation führen dazu, dass die Arbeitsform Projekt einen Verlust an Akzeptanz erleidet, der so gravierend ist, dass sie mittlerweile von Beschäftigten wohl eher mit einem Hamsterrad in Verbindung gebracht wird? Welchen Einfluss üben Digitalisierung und Beschleunigung von Arbeitsprozessen auf die Projektarbeit aus, wie verändern sich dadurch die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten?

Die Phase des Experiments

Experimente mit neuen Kooperations- und Arbeitsformen tauchten bereits in den 1970er und 1980er Jahren auf. Arbeitswissenschaftler bezeichnen diese Zeit als eine Phase des Übergangs, in der sich der Kapitalismus zu einer postfordistischen, dienstleistungsorientierten Formation gewandelt hat.⁵ Volvo führte 1972 in einigen Montagewerken die Gruppenarbeit ein, andere Autokonzerne zogen wenig später nach. Zahlreiche deutsche Unternehmen experimentierten mit Kleingruppen wie beispielsweise Qualitätszirkeln, in denen Beschäftigte Vorschläge zur Verbesserung der Produktqualität erarbeiten sollten. Es war »eine Zeit des Suchens und Experimentierens der Unternehmen (…), in der sich neue Ansätze in der Arbeitsteilung, in der Unternehmensorganisation und in der Flexibilisierung der Arbeit auf breiterer Stufenleiter durchsetzten«.⁶

In diesem Zusammenhang trat auch Projektarbeit als eine »neue«, weitgehend unbekannte Arbeitsform auf den Plan. Sie wird in der Regel durch folgende Merkmale definiert:

  • Die Arbeitsaufgaben sind nicht vorgegeben und wenig oder gar nicht routinisiert. Die Lösungswege für die Arbeitsaufgabe sind den Beschäftigten bei Projektbeginn nicht bekannt.

  • Der Projektauftrag ist selten eindeutig; während der Bearbeitung eines Projekts und im Kontakt mit Kunden ergeben sich neue Anforderungen, die berücksichtigt werden müssen.

  • Die Zusammenarbeit in der Projektgruppe findet nicht dauerhaft statt, sondern ist zeitlich begrenzt und problembezogen. Während des Projektes kann die Zusammensetzung variieren.

Wirklich trennscharf lässt sich diese Arbeitsform von anderen aber nicht abgrenzen. Im täglichen Sprachgebrauch werden bereits kleinere Aufgaben als Projekt bezeichnet, bisweilen eine kleinere Arbeit, manchmal ein größeres Vorhaben. Trotz dieser mehrdeutigen Verwendung sind die zeitliche Begrenzung, das definierte Ende und die Besonderheit der Aufgabe die Elemente, die ein Projekt zu einer besonderen Arbeitsform machen. Die DIN-Norm 69901-5 definiert ein Projekt als Vorhaben, das insbesondere durch die »Einmaligkeit seiner Bedingungen in ihrer Gesamtheit gekennzeichnet ist«.⁷

Die genannten Definitionsmerkmale und Elemente lassen aber etwas Wesentliches außer Acht: Bei der Projektarbeit handelt es sich um eine Kooperation von Menschen, die diese in ihrer Eigenschaft als Lohnabhängige eingehen. Es ist der Arbeitsprozess, der die Beschäftigten miteinander verbindet und miteinander in Beziehung setzt. Sowohl für das Management als auch für die Beschäftigten hat diese Zusammenarbeit eine große Bedeutung, was aber nicht heißt, dass die Interessenlagen übereinstimmen.

Für das Management sind vor allem die ökonomischen und materiellen Aspekte dieser Zusammenarbeit wichtig. Denn die arbeitsteilige Kombination von Fertigkeiten, Qualifikationen und Wissen der Beschäftigten machen aus einer Kooperation eine menschliche Produktivkraft, die Mehrwert und Profit steigern kann. »Kooperation im Arbeitsprozess (ist) der Logik des Verwertungsprozesses unterworfen, d. h. den Gewinnvorgaben des Unternehmens und damit Eigentums- und Machtverhältnissen«, schreiben Richard Detje und Dieter Sauer. Dabei lasse sich das Management von Rentabilitätskriterien leiten, was zur Folge habe, dass funktionale Kooperationsstrukturen »auseinandergerissen, verlagert und in globalen Produktionsketten neu sortiert werden«.⁸ Damit verweisen die beiden Sozialforscher darauf, dass die Beschäftigten zwar Akteure in einem Projekt sind, aber ihre Zusammenarbeit unabhängig von ihnen und über ihre Köpfe hinweg existiert und zudem unter Vorbehalt von Direktiven oder Zielsetzungen des Managements einen eingeschränkten Charakter hat. »Nicht die Arbeitenden selbst stellen ihre Interaktion her, sie ist ihnen vielmehr vom Unternehmen vorgegeben.«⁹

Für die Beschäftigten sind Gewinnvorgaben und Rentabilitätskriterien nicht der entscheidende Maßstab für ihre Arbeit in einem Projekt. Viel wichtiger sind ihnen die kommunikativen und sozialen Aspekte, die dieser Arbeitsform ermöglicht: Wissen und Kenntnisse zu teilen, das gemeinsame Bearbeiten und Lösen einer Aufgabe, der fachliche Austausch, die gegenseitige Unterstützung und nicht zuletzt der Wunsch nach Kollegialität im Team.

Vor der Jahrtausendwende dominierte in der Öffentlichkeit ein positives Bild von der »neuen« Arbeitsform, mit der in den Unternehmen experimentiert wurde. Nicht nur die Mitmenschen Paolis, auch manche Wissenschaftler, die die Anfänge dieser Arbeitsform beobachteten, sahen in ihrer Verbreitung den Beginn eines humanzentrierten Pfades in der Arbeitsorganisation, schien es doch so, als würden sich die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten durch erweiterte Gestaltungsspielräume und den Möglichkeiten eigener Kreativitätsentfaltung grundlegend verbessern. Eine Studie, veröffentlicht in einer gewerkschaftlichen Fachzeitschrift, verschloss zwar nicht die Augen vor den Ambivalenzen dieser Arbeitsform. Aber besonders gewürdigt wurden die Selbständigkeit in der Arbeitsausführung und die angenehmen Verkehrsformen. »Projektarbeit«, hieß es dort, »wird von der überwiegenden Mehrzahl der Gesprächspartner als sehr positiv und befriedigend empfunden, nicht selten bereitet sie sogar ›Vergnügen‹. (…) Der Spielraum für Selbststeuerung und die Beteiligung an Entscheidungen erscheinen gegenüber der klassischen Arbeit in der Linie deutlich erhöht.«¹⁰

Die betriebswirtschaftliche Phase

Schon bald nach der Jahrtausendwende veränderten Management und Unternehmensleitungen in vielen Unternehmen das Profil der Projektarbeit aber zu ihren Gunsten und beendeten damit das Experimentierstadium. Sie wurde als dauerhafte Form in die unternehmensinternen Arbeitsprozesse integriert und unter dem Gesichtspunkt von Effizienz und Profitabilität einer betriebswirtschaftlichen Rationalität unterworfen. Besonders in der IT- und Softwareentwicklung wird für viele Beschäftigte das Projekt die charakteristische Form der Arbeit. Aber nicht nur dort. Auch die Konstruktions- und Designbereiche der Automobilindustrie oder des Maschinenbaus, die Telekommunikationsbranche oder der Finanzbereich sind inzwischen projektintensive Branchen. Nicht nur ist jedes neue Fahrzeug ein Projekt, sondern auch jedes Bauteil und Modul, das für das fertige Modell entwickelt und hergestellt wird, stellt ein in sich abgeschlossenes Projekt dar. Kennziffern und ergebnisorientierte Steuerungsformen halten nun Einzug in den Projektalltag. Durch Budgetierungen wird ein Con­trolling installiert und den Projekten Kostendenken und Sparsamkeit auferlegt. Ihre Steuerung erfolgt mehr und mehr durch Zielvereinbarungen auf der Grundlage konkreter Leistungskennzahlen (z. B. für Produktivität, Liefertermine, Produktentwicklungszeiten, Innovation). Einzelne Projektphasen werden immer weiter zeitlich gestrafft, Personalbemessungen werden auf das unverzichtbare Minimum reduziert.

Beschleunigung der Arbeit

Da die Arbeitsaufgaben in der Regel nicht vorgegeben sind, müssen diese vom Projektteam erst Schritt für Schritt definiert werden. Anforderungen können sich jederzeit verändern, falls der Kunde das wünscht oder der Markt es verlangt. Sind Aufgaben ständig neu oder anders, können keine oder nur geringe Arbeitsroutinen zur Stressminimierung entwickelt werden. Sind ständig Änderungswünsche des Kunden zu berücksichtigen, erhöhen sich Koordinierungsanstrengungen und zeitraubende Absprachen im Team. So entstehen Situationen, in denen die Teammitglieder mit Hindernissen (z. B. Zeitverzögerungen, Unterbrechungen durch fehlerhafte Software) umgehen müssen, ihre Improvisationskünste gefragt sind oder widersprüchliche Arbeitsanforderungen zu bewältigen sind.

Die Ungewissheiten der Arbeitsaufgabe oder die Widersprüchlichkeit bestimmter Anforderungen sind in der Regel kein Anzeichen von schlechter Führung. Es handelt sich dabei eher um eine Art Arrangement des Managements, durch eine Situation der indirekten Steuerung bestimmte Potentiale des menschlichen Arbeitsvermögens zu nutzen, die in der kapitalistischen Arbeitsorganisation bisher häufig ungenutzt blieben. Aktiviert werden sollen die geistige Flexibilität der Beschäftigten und ihre Fähigkeit zum kreativen und lösungsorientierten Denken. Die Mitglieder eines Projekts sollen eigene Aktivitäten zur Bewältigung situativer Anforderungen entwickeln und auf Kunden- oder Marktanforderungen selbständig reagieren. Im »Managementsprech« wird dieses von Beschäftigten erwartete Verhalten als »Empowerment« bezeichnet. Diese Selbstermächtigung soll – im Unterschied zur experimentellen Phase der Projektarbeit – nicht mehr nur sporadisch genutzt werden, sondern als produktives Vermögen systematisch und permanent in den Arbeitsprozess einfließen. Kreativität und Ideen werden somit zu (geistigen) Werkzeugen der Produktion und der Dienstleistung gemacht. Die Arbeitsorganisation der Unternehmen soll dadurch eine Beweglichkeit erhalten, die es ermöglicht, auf Veränderungen von Märkten und Kundenwünschen zeitnah zu reagieren. Beweglichkeit wird dabei häufig mit Begriffen wie Schnelligkeit (der Wertschöpfung), Beschleunigung (interner Abläufe) und Effizienz (der Arbeit) in einen Zusammenhang gestellt.

Auf die besondere Bedeutung von Zeit und Schnelligkeit hat schon Karl Marx in seiner ökonomischen Analyse der Ökonomie des Kapitalismus aufmerksam gemacht. Alle Ökonomie werde im Kapitalismus zu Zeitökonomie, lautete seine Feststellung. Je schneller das Kapital zirkuliere, je schneller sich geleistete Arbeitskraft in Warenwerte verwandele, desto größer werden die Wettbewerbsvorteile und Gewinnmargen der Unternehmen. »Produktionsbeschleunigung – etwa durch Intensivierung und Verdichtung der Arbeit – wird damit (…) zu einem Grundelement kapitalistischen Wirtschaftens.« Sie sei ein elementares Merkmal der Organisation von Arbeit in der kapitalistischen Wirtschaft, schreibt der Soziologe Hartmut Rosa in seinem Buch über Zeitstrukturen in der Moderne.¹¹ Diese Logik der »Beschleunigung zum Zwecke der Steigerung« habe den Charakter eines »unentrinnbaren, in die materiellen Strukturen der Gesellschaft eingelassenen Sachzwangs«.¹²

Die kritischen Situationen

Neben der Ungewissheit von Anforderungen und der Beschleunigung von Prozessen sind es die vielen kritischen Situationen, die Projektarbeit so ambivalent machen. Zu Zeiten der »fordistischen« Arbeitsorganisation wollten Unternehmen noch durch eine Standardisierung von Arbeitsprozessen und einer möglichst exakten Aufgabendefinition, eine Ordnung und Klarheit in den Abläufen herstellen. Wer seine Arbeit am Morgen begann, sollte genau wissen, was von ihm tagsüber erwartet wurde.

Dagegen strebt die postfordistischen Arbeitsorganisation eine solche Vermittlung von Gewissheiten erst gar nicht an. Sie erwartet von den Beschäftigten eines Projektes, kritische Situationen in der Arbeit selbständig zu meistern und sich auf wechselnde Gegebenheiten einzustellen. In der Arbeitsphase des Projektes kommt es häufig zu kritischen Situationen durch personelle Veränderungen. Einige werden krank, manche kündigen zwischenzeitlich selbst oder reduzieren Arbeitszeit. Wenn dann neue Kolleginnen oder Kollegen in das Team kommen, müssen diese integriert und die Teamfähigkeit untereinander hergestellt werden. Geschieht dies nicht, hat das interne Konflikte im Team zur Folge.

Auch die Auftragsabwicklung kann kritische Situationen heraufbeschwören. Tatsächlich neigen Projekte dazu, immer komplexer zu werden. Angefangen von Budgets und Terminen (Meilensteine), die ständige Aufmerksamkeit erfordern, über das Vorhandensein geeigneter Werkzeuge (Tools) bis hin zu Kunden und Auftraggebern, die eingebunden sein wollen, verlangen die Abläufe eines Projektes die Beachtung einer Vielzahl technischer, betriebswirtschaftlicher und personeller Aspekte. Die Verzahnung dieser für diese Arbeitsform typischen Merkmale machen aus einem Projekt nicht nur eine Arbeitsform mit erhöhtem Schwierigkeitsgrad und zunehmender Komplexität. Sie sind auch der Nährboden für eine höhere Krisenanfälligkeit, die eine ständige Gefährdung der Arbeitsabläufe in einem Projekt nach sich zieht. Laut einer Studie von 2017 scheitern 14 Prozent aller Softwareprojekte ganz, 31 Prozent erreichen ihre Ziele nicht, 43 Prozent überziehen ihr Budget und 49 Prozent halten ihre Deadlines nicht.¹³

Beispiel IBM

Für viele Beschäftigte bei SAP, Siemens, T-Systems oder anderen Großunternehmen wurden die Schattenseiten der neuen Arbeitsform immer sichtbarer. In der Arbeitsorganisation der Firmen war das Projekt die typische Form der Bearbeitung von Aufträgen. Die Beschäftigten von IBM hatten bereits einige Jahre sogenannter Reorganisation hinter sich, als sie – auf Initiative von Betriebsräten und der IG Metall – in einigen deutschen Niederlassungen von IBM eine Diskussion über die Arbeitsbedingungen im Unternehmen führten. Sie begannen, ihre Erfahrungen des Arbeitens in diesem Unternehmen zu thematisieren. Sie schrieben Texte, in denen sie sich mit dem eigenen Erleben des ständigen Leistungsdrucks, dem sie ausgesetzt waren, und dem Wirksamwerden der Mechanismen der neuen Arbeitsorganisation auseinandersetzten.

Besondere Aufmerksamkeit erfuhr dabei ein sehr persönlich gehaltener Text einer Projektleiterin. Darin kamen die Überforderung, das Gefühl der Ausweglosigkeit, des Nicht-entrinnen-Könnens aus einer Situation und die empfundene Endlosigkeit des eigenen Tuns in dauerhaft praktizierter Projektarbeit zum Ausdruck: »Die Situation ist nun beinahe unerträglich geworden. Eine grundsätzliche Entlastung ist jedoch nicht in Sicht. Im Gegenteil steigt der Druck noch dadurch, dass ich inzwischen (notgedrungen) so viele Dinge vernachlässigt habe, dass ich nun Angst haben muss, die Kontrolle über meine Projekte zu verlieren. Mich regiert blanke Angst. (…) Sollte es mir irgendwie gelingen, meine Arbeitszeit zu begrenzen und meine Projekte etwas langsamer abzuwickeln, hätte ich nicht viel gewonnen. Ich müsste den Druck, mein Projekt endlich zu beenden, nur noch länger ertragen. So ist inzwischen ein wichtiger Antrieb die falsche Hoffnung, das Projekt endlich abschließen zu können und dann doch endlich mal frei zu sein. Aber diese Hoffnung ist vollkommen und grundlegend unsinnig. Denn die Projektarbeit hat kein Ende.«¹⁴

Die von der Projektleiterin geschilderten Erfahrungen sind ein anschauliches Beispiel für das, was Karl Marx als Entfremdung menschlicher Arbeit beschrieben hat. In ihrer Eigenschaft als Leiterin mehrerer Projekte erfährt sie sich nicht als autonomes Subjekt ihrer eigenen Arbeitshandlungen und als aktiv handelnde Urheberin, sondern begreift sich als fremde Person, als Gefangene in den Zwängen einer Arbeitsform und als Spielball anonymer Kräfte. Ihre Gedanken sind auch Symptom für eine ständige Arbeitsverdichtung, wachsenden Zeitdruck und verschwimmende Grenzen von Arbeits- und Privatsphäre, die sich in Projekten bemerkbar macht. Gestörte Work-Life-Balance, das Nicht-abschalten-Können, verminderte Erholungsfähigkeit, ständige Erreichbarkeit oder mühselige Videokonferenzen am frühen Morgen oder späten Abend (bei weltweit verteilten Teams) mögen nicht monokausal mit der Projektarbeit zusammenhängen. Aber sie sind als Symptome für hohe Belastungen aus dieser Arbeitsform auch nicht mehr wegzudenken. Einige Untersuchungen aus dem Zeitraum der Jahre 2000 bis 2010 belegen die gesundheitlichen Belastungen. »Arbeiten bis zur Erschöpfung ist in Projekten keine Seltenheit.«¹⁵ Eine aktuelle Studie der Gesellschaft für Projektmanagement (GPM) zeigt eine im Vergleich zur allgemeinen Bevölkerung besonders hohe Verbreitung von Erschöpfungszuständen unter Beschäftigte, die in mehrere Projekte gleichzeitig involviert sind. Mehr als ein Drittel der befragten Personen unterliegen einem erhöhten Burnoutrisiko.¹⁶

Das Image einer kreativen und einzigartigen Arbeitsform hat die Projektarbeit inzwischen eingebüßt. Auch die mit ihr verbundenen Hoffnungen auf eine »gute« Arbeit, die Paoli unter seinen Mitmenschen zu spüren glaubte, als diese Arbeitsform noch in den Kinderschuhen steckte, haben sich mittlerweile erledigt. Im Grunde hat der Kapitalismus »ganze Arbeit« geleistet: Er hat sich die Hoffnungen der Beschäftigten zu eigen gemacht, er hat die Sehnsucht der Arbeitenden nach einer sinnvollen und selbstbestimmten Arbeit im Sinne kapitalistischer Verwertungslogik umgedeutet und aus der Arbeitsform ein probates Mittel für die Kapitalakkumulation gemacht

Projekte sind inzwischen eine weitgehend formalisierte und standardisierte Arbeitsform geworden. Sie sind ein treffendes Beispiel dafür, wie der Kapitalismus die eigenen Arbeitsformen entzaubert, indem er sie der Logik von Beschleunigung, Effizienz und betriebswirtschaftlicher Rationalität unterwirft. Als Karl Marx die politische Ökonomie des Kapitals einer grundlegenden Kritik unterzog, kannte er diese Arbeitsform nicht. Dennoch hatte er ein gutes Gespür für die destruktiven Wirkungen, die dieser Entzauberungsprozess auf die Beschäftigten und ihre Arbeit ausübt. »Alle Mittel zur Entwicklung der Produktion«, schrieb er im Abschnitt zum Akkumulationsprozess des Kapitals, »schlagen um in Beherrschungs- und Exploitationsmittel des Produzenten, verstümmeln den Arbeiter in einen Teilmenschen, entwürdigen ihn zum Anhängsel der Maschine, vernichten mit der Qual seiner Arbeit ihren Inhalt, entfremden ihm die geistigen Potenzen des Arbeitsprozesses im selben Maße, worin letzterem die Wissenschaft als selbstständige Potenz einverleibt wird.«¹⁷

Anmerkungen

1 guillaumepaoli.de/wp-content/uploads/2013/10/wider-das-projekt.pdf

2 ebenda

3 Juli Zeh: Über Menschen. München 2021, S. 17 f.

4 Ebd., S. 18

5 Vgl. Dieter Sauer: Arbeit im Übergang. Zeitdiagnosen. Hamburg 2005, S.12 ff.

6 Thomas Goes: Aus der Krise zur Erneuerung. Gewerkschaften zwischen Sozialpartnerschaft und sozialer Bewegung. Köln 2006, S. 84

7 Vgl. www.projektmagazin.de/glossarterm/projekt

8 www.rosalux.de/publikation/id/51083/solidaritaet-in-den-krisen-der-arbeitswelt-1, S. 135

9 ebenda

10 Vgl. Heinrich Bollinger: Neue Formen der Arbeit – neue Formen des Gesundheitsschutzes: Das Beispiel Projektarbeit. In: WSI-Mitteilungen 11/2001, S.685–691

11 Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main 2005, S. 260

12 ebd. S.257 f.

13 codecontrol.io/de/blog/7-reasons-tech-projects-fail

14 Wilfried Glißmann: Weiter reden, weiter schreiben – mit Texten die eigene Situation begreifen, in: IG-Metall-Vorstand (Hg.): Denkanstöße – IG Metaller in der IBM. Frankfurt am Main 2000, S. 39

15 Anja Gerlmaier/Erich Latniak: Arbeiten bis zur Erschöpfung – Regulierungs- und Handlungsansätze bei Projektarbeit, in: Lothar Schröder/Hans-Jürgen Urban (Hrsg.): Gute Arbeit. Ausgabe 2012. Frankfurt am Main, S. 117

16 Vgl. link.springer.com/book/10.1007/978-3-662-62231-5

17 Karl Marx: Das Kapital. Bd. 1. In: Marx-Engels-Werke, Bd. 23, S. 674

Hermann Bueren ist Autor des Buchs: »Bewegt euch schneller!« Zur Kritik moderner Managementmethoden. Ein Handbuch. Kellner-Verlag, Bremen 2022. An dieser Stelle schrieb er zuletzt am 9. Oktober 2023 über Teamarbeit und Kooperation im agilen Kapitalismus.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Paul L. aus Kall (11. März 2024 um 17:05 Uhr)
    Mit dem Thema habe ich mich seit längerem beschäftigt, was auch mit meiner Tätigkeit in einem Unternehmen im IT-Bereich zu tun hatte, wobei uns dann auch noch im Verlauf der Entwicklung (was die Varianten der Projektarbeit betrifft), das Managementsteuerungssystem Six Sigma auferlegt wurde. Letztlich geht es »nur« darum, die menschliche Arbeitskraft derart abzuschöpfen, dass die beteiligten Projektmitarbeiter:innen ihren vollen Einsatz (und darüber hinaus!) von sich aus aktivieren und sich dabei als »Arbeitskraftunternehmer« empfinden. Also quasi den Arbeitgeber verinnerlicht haben, ohne sich dessen überhaupt noch bewusst zu werden/sein. Dabei wird i. d. R. der Termin vorgegeben und das Budget vorab definiert. Insoweit also für das Projektteam ein gesetzter Rahmen, der nun mit deren »Selbstausbeutung« (Selbstoptimierung) eingehalten werden kann. Mehr dazu in diesem älteren Beitrag »Wenn die Arbeit den Menschen frisst«: https://www.freitag.de/autoren/pleifel02/wenn-die-arbeit-den-menschen-auffrisst Ob sich diese Verhältnisse verbessert haben, können die Leser ja anhand ihrer eigenen Erfahrungen checken.
  • Leserbrief von Michael Wallaschek aus Halle (Saale) (9. März 2024 um 17:47 Uhr)
    Ein sehr schöner Artikel, der sich mit den Andeutungen aus meinem Bekanntenkreis über Projektarbeit im Großbetrieb deckt. Allerdings ist die »Projektmacherei« deutlich älter. So beschrieb der als Gymnasialprofessor zu Stargard/Pommern wirkende Johann Daniel Denso im Jahr 1752 den »Proiectmacher« als einen Menschen, »der einem Landesherrn, zu merklicher Bedrükkung seiner Untertanen, neue Vermerungen seiner Einkünfte angiebt«; die »Vorschläge« seien »entweder durch die Heftigkeit der erwälten Mittel, oder durch die Verwerflichkeit des Endzwekkes verhast«. Man muss heute nur »Landesherr« durch Aktionär und »Proiectmacher« durch Manager ersetzen. Am Ziel der Vermehrung der Einkünfte, heute des Profits, hat sich nichts geändert, die »Heftigkeit der Mittel« und die »Verwerflichkeit des Endzwekkes« lassen sich durch schöne Phrasen von Selbstermächtigung, Achtsamkeit, Nachhaltigkeit, Menschenrechten, Klimaschutz usw. usf. übertünchen. Das Ergebnis ist dasselbe: ausgepresste und kranke Menschen und Natur. Allerdings hat man gelegentlich den Eindruck, dass die Menschen im 18. Jahrhundert diese Zusammenhänge besser verstanden haben als viele Mitmenschen, die auf die Phrasen hereinfallen und sie nachplappern und zu spät merken, dass die Folgen der Projektmacherei sie selbst betreffen.
  • Leserbrief von Georg F. aus Heidelberg (9. März 2024 um 14:18 Uhr)
    »Projekte pitchen« und ähnliches wurde auch gern von heute konservativen Leuten gerühmt. Dabei wurde »Digitalisierung« und »Freiheit« synonym verwendet und nach 2000 von vielen, die sich selbst »links« nannten, bejubelt. Von Sascha Lobo etwa gab es »Wir nennen es Arbeit – die digitale Bohème oder intelligentes Leben jenseits der Festanstellung«. Als das alles gar nicht so leicht und locker ging, schwieg man lieber darüber, von Taz bis Welt. Genau wie diese kapitalistischen Strategien wenig beachtet wurden, fällt in letzter Zeit stark auf, wie die Psychoanalyse und andere Psychologieformen pauschal kritisiert werden, obwohl es da auch viele linke Ideen gerade gegen die Ausbeutung gab, die dann durch kapitalistisch postmodernes »Coaching« völlig vergessen werden. Man muss nur, beispielsweise, all die linken wie rechten Bücher bzw. Szenen der letzten zwei bis drei Jahrzehnte daraufhin anschauen, wie sie »Entfremdung« sehen. Der Wunsch, »cool« zu sein, neueste Moden mitzumachen, führte nicht selten dazu, dass die Ausbeutung übler wurde. Was also marktradikale Leute immer schon wollten, wurde allzuoft auch von links schöngeredet. Da freuten sich manche, die davon profitierten, über die unerwartete Hilfe sehr.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (7. März 2024 um 22:38 Uhr)
    Gruppenarbeit in Montagewerken: So um 1980 (Jahreszahl weiß ich nicht mehr genau) habe ich mich nach Feierabend zufällig mit einem Daimler-Arbeiter aus der benachbarten Fabrik in Stuttgart-Zuffenhausen über die Gruppenarbeit unterhalten. Seine lakonische Charakterisierung: Die wollen uns damit das Gold aus dem Hirn kratzen. Die Projektarbeit stellt wohl eine Perfektionierung des Kratzens – auch abseits der Fabrik – dar …