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Aus: Ausgabe vom 08.03.2024, Seite 8 / Inland
Kampf ums Wohnen

»Er rechnet an keiner Stelle das Modell wirklich durch«

Berlin: Initiative zur Vergesellschaftung von Wohnraum kritisiert Rechnungshofbericht. Ein Gespräch mit Ralf Hoffrogge
Interview: Annuschka Eckhardt
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»Keine Ausreden mehr!«: Kundgebung der Initiative »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« in Berlin (28.6.2023)

Der Berliner Landesrechnungshof hat einen Bericht zur möglichen Vergesellschaftung großer kapitalistischer Wohnungsunternehmen vorgelegt. Was wurde da genau berechnet?

Der Bericht enthält mehrere Szenarien für Entschädigungshöhen, die durchgerechnet werden, darunter niedrige Zahlen, die wir am Anfang der Debatte 2019 mal in die Welt gesetzt hatten – aber auch sehr hohe Zahlen bis hin zu 42 Milliarden Euro, die noch nie irgend jemand einschließlich des Senats gefordert hat.

Sie werfen in einer Mitteilung vom Mittwoch dem Rechnungshof vor, veraltete Berechnungsmethoden verwendet zu haben. Wie kommen Sie darauf?

Der Witz an diesen Szenarien ist, dass Sie ursprünglich aus einer Powerpoint-Präsentation stammen, die der Expertenkommission des Senats im April 2023 gehalten wurde. Und diese hatte jene Berechnungsmethode als unbrauchbar verworfen und nicht in den Kommissionsbericht aufgenommen. Die Methode entspricht einfach nicht dem, was das Grundgesetz im Vergesellschaftungsfall vorsieht. Und deswegen ist es einerseits veraltet, andererseits entspricht das, was da berechnet wird, schlicht nicht der Vergesellschaftung, die wir mit unserer Initiative anstoßen.

Weshalb beurteilen Sie den Bericht mit »Thema verfehlt«?

Thema verfehlt, weil der Bericht mit absoluten Milliardensummen arbeitet, obwohl wir im Grunde wissen müssten: Wie hoch ist der Abschlag vom Verkehrswert oder mit welchem Modell entschädigen wir? Das ist der Knackpunkt. Deswegen hatte auch die Expertenkommission das Ding verworfen. Sie bejaht die Entschädigung unter Marktwert. Und wenn man ehrlich rechnet: Wenn Sie ein Haus kaufen und der Preis ist signifikant niedriger als die zu erwartenden Mieten der nächsten 30 Jahre, machen Sie Plus. Das verschleiert dieser Bericht systematisch, indem er einerseits unrealistische Extremszenarien einführt wie 36 oder 42 Milliarden. Dabei hat selbst der Senat 2019 in seinen Berechnungen die 36 Milliarden nur als rechnerische Obergrenze angenommen. Am Ende ging er von 28,8 Milliarden aus – das ist die höchste bisher geforderte Zahl. Und die ist auch veraltet, weil die Immobilienpreise gesunken sind. Wenn Sie bei Google nachgucken, wie viel der gesamte Vonovia-Konzern wert ist, sind das 21 Milliarden – und zwar mit 500.000 Wohnungen.

Mit den Riesenzahlen als »Szenario« relativieren sich selbstverständlich die niedrigen Annahmen einer Entschädigung unter Marktwert. Am Ende haben Sie einen Mittelwert, der irgendwie nach Mitte und realistisch aussieht. Aber eigentlich ist der Mittelwert selbst inszeniert. Auch bei den Zinsen führt der Bericht sehr hohe Zahlen ein. Wenn man wirklich viereinhalb Prozent Zinsen zahlen müsste, wären die landeseigenen Wohnungsunternehmen auch pleite. Kurzum: Der Bericht rechnet an keiner Stelle das von uns vorgeschlagene Modell wirklich durch.

Wie kommt es, dass die Forderung der Entschädigungssummen für die Wohnungsunternehmen in dem Bericht noch über denen der Immobilienlobby liegen?

Das ist mir auch ein Rätsel. Bevor wir so viel zahlen: Vielleicht gibt Berlin lieber 21 Milliarden Euro aus und kauft Vonovia, verkauft dann die Bestände in anderen Städten an Mietergenossenschaften und macht noch Plus damit.

Was ist die Intention hinter der Forderung im Bericht?

Mich erinnert das an die amtliche Kostenschätzung von 2019, wo der Berliner Senat auch so getan hatte, als ob Vergesellschaftung ein Minusgeschäft sei. Da wird mit zweierlei Maß gemessen: Man tut so, als würde man riesige Verluste machen, wenn man eine Immobilie kauft und den Kredit aus den Mieten abbezahlt – oder aus der gesparten Miete, wie es jeder selbstnutzende Häuslebauer macht. Dabei hat der keine Staatsgarantie. Und kein normaler Häuslebauer oder Käufer kann unter Marktwert erwerben.

Wie ist es um das Vorhaben der Vergesellschaftung von Wohnungsunternehmen bestellt?

Wir erarbeiten gerade ein eigenes Gesetz. Das ist komplizierter als gedacht, weil wir nicht die Ressourcen der Senatsverwaltungen oder Parlamentsfraktionen haben. Aber wir sind da dran und auf einem guten Weg. Ziel ist, das Gesetz in einem zweiten Volksentscheid zur Abstimmung zu stellen.

Ralf Hoffrogge ist Sprecher der Berliner Initiative »Deutsche Wohnen & Co. enteignen«

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