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Aus: Ausgabe vom 07.03.2024, Seite 12 / Thema
Reihe »Unsere Leser«

»Es ist das Gegenteil von Freiheit«

Serie.Als ob Waffenlieferungen helfen würden. Zu Besuch in Hamburg. »Unsere Leser« – kritisch, treu und meinungsstark (Teil 6)
Von Burga Kalinowski
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»Sagt Nein!« – Wolfgang-Borchert-Mahnmal des Bildhauers Ernst Nönnicke in Hamburg (1994)

Für die Redaktion sind Leserbriefe gewissermaßen das Salz in der Suppe. Ich wollte wissen: Wer sind die Leute, die uns schreiben. Mit etwa 30 Lesern habe ich telefoniert, 16 besucht. Die Spur der Briefe führte quer durch Land und Geschichte(n), zu Erinnerungen in Ost und West, in die Kämpfe der Zeit für Frieden und Gerechtigkeit.

Kurz vor seinem Tod im November 1947 schrieb Wolfgang Borchert den Text »Dann gibt es nur eins!« – entstanden aus der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges. Eine Warnung vor dem Krieg. Gültig für alle Zeit: Sagt Nein!

Ein Ausschnitt: »Sagt NEIN! Mütter, sagt NEIN! Denn wenn ihr nicht NEIN sagt, wenn IHR nicht nein sagt, Mütter, dann: (…) dann wird der letzte Mensch, mit zerfetzten Gedärmen und verpesteter Lunge, antwortlos und einsam unter der giftig glühenden Sonne und unter wankenden Gestirnen umherirren, einsam zwischen den unübersehbaren Massengräbern und den kalten Götzen der gigantischen betonklotzigen verödeten Städte, der letzte Mensch, dürr, wahnsinnig, lästernd, klagend – und seine furchtbare Klage: WARUM? wird ungehört in der Steppe verrinnen, durch die geborstenen Ruinen wehen, versickern im Schutt der Kirchen, gegen Hochbunker klatschen, in Blutlachen fallen, ungehört, antwortlos, letzter Tierschrei des letzten Tieres Mensch – all dieses wird eintreffen, morgen, morgen vielleicht, vielleicht heute nacht schon, vielleicht heute nacht,

wenn –

wenn –

wenn ihr

nicht NEIN sagt«

*

Hamburg und meine Gesprächspartner. Monika M., Jahrgang 1967, ihr Mann Wolfgang M., 1963 geboren, und Manfred Gürth, Jahrgang 1948. Schöne und interessante Gespräche schon im vergangenen Jahr. Klug und engagiert der Blick auf die Welt. Und täglich überholt die Zeit unsere schlimmsten Befürchtungen.

Zu den Recherchen gehört Wolfgang Borchert. Er ist in Hamburg geboren, am Krieg gestorben, ersehnte Frieden. Denkmäler erinnern an ihn. Auf der Tafel in Hamburg-Eppendorf ein Textausschnitt »Sagt Nein!«. Die Tafel steht neben der sogenannten Friedenseiche auf dem Eppendorfer Marktplatz. Ein belebter Ort mit Wochenmarkt, in der Nähe ein kleines Theater. Monika und Wolfgang M. kommen ab und zu hier vorbei.

Westfrau und Ostmann

Natürlich kennen sie den Dichter. Sie hat Literaturwissenschaft in Bochum studiert, arbeitet als Lektorin. Er kommt aus der DDR, absolvierte dort im Kabelwerk Oberspree in Berlin eine Ausbildung zum IT-Mann, auch »Facharbeiter für Datenverarbeitung« genannt, danach Mitarbeiter im Rechenzentrum des Werkes. Der Kalender zeigt 1991. Das Datum teilt Leben in davor und danach. Ost und West wachsen gesellschaftlich zwar nicht zusammen, aber Liebe ist Liebe: Westfrau und Ostmann ziehen zusammen, Wohn- und Arbeitsort Hamburg. Damals war Wolfgang M. in seinem ersten Westjob der einzige, der die PCs technisch betreuen konnte, weil er es von der Pike auf gelernt hatte. »Na so was … kommt aus dem Osten und kann mehr als wir« – dachten da vielleicht einige Kollegen. Der Ausbildungsberuf in der IT kam in der BRD erst Ende der 90er Jahre auf.

Kann mehr, weiß mehr – nicht grundlos adaptierte Finnland das DDR-Bildungssystem. Jedenfalls kennt der Datenfacharbeiter Wolfgang M. den Dichter Wolfgang Borchert. Im Bücherschrank seiner Eltern stand neben Marx und Engels und Lenin, neben der Romantrilogie »Die Lebenden und die Toten« über den Zweiten Weltkrieg von Konstantin Simonow unter anderem auch Wolfgang Borchert. Die erste Auflage seines Werkes wurde 1957 im Mitteldeutschen Verlag Halle verlegt, das Stück »Draußen vor der Tür« gehörte zum Repertoire vieler Theater, DDR-Komponisten vertonten seine Gedichte, die Erzählung »Hundeblume« kam 1963 im Reclam-Verlag Leipzig heraus. Es gehörte zum gesellschaftlichen Klima der DDR. Wolfgang M. sagt rückblickend: »Wir sind zum Frieden erzogen worden.« Das war politisches Programm und DDR-Zeitgeist. Propaganda? »Mag sein … vermittelt wurden Weltkultur und humanistische Werte.« Andere Weltsichten, erkennbar bis heute an den ost-westlichen Unterschieden bei der Ablehnung deutscher Waffenlieferungen in die Ukraine, ablesbar an den Forderungen nach diplomatischen Lösungen: Der Osten will den Krieg nicht. M. korrigiert: Die meisten dort wollen den Krieg nicht. Könnte politische Osterfahrung sein oder hat mit friedlichen Urlaubstagen zu tun. Wer nach Odessa fuhr oder während einer Schiffsreise Jalta auf der Halbinsel Krim besuchte, der machte Urlaub in der Sowjetunion, manche sagten schon damals Russland. Es war kein Hass dabei.

Inzwischen gehört Hass zum guten Ton in Politikerbüros und Redaktionsstuben – am liebsten aber vor der Kamera. Es erschreckt Wolfgang M., macht ihn fassungslos. »Wer jetzt noch mehr Waffen fordert, denkt nicht an die Menschen dort …, an die Soldaten eh nicht. Die hier am lautesten für Krieg schreien, die haben wahrscheinlich nicht mal Wehrdienst gemacht. Ich habe zerstörte Fahrzeuge gesehen, da wird mir ganz übel beim Gedanken, dass da jemand drin saß. Es ist das Gegenteil von Freiheit.« Floskeln, für die Ukrainer sterben. Sterben für das, was ihnen Heimat ist: Schiroka strana moja rodnaja. Und »der kollektive Westen schafft es nicht mal, die mathematischen und statistischen Aufgaben militärischer Unterstützung zu bewältigen. Russland spielt knallhart seine Überlegenheit aus«. Deutlich und vernichtend – Schiroka strana moja rodnaja. Auf Deutsch: »Vaterland, kein Feind soll dich gefährden.« Versprechen beide Seiten.

Wolfgang M. hat nicht gedacht und nicht gewollt, dass Russland seine Sicherheitsinteressen militärisch durchsetzt. Trotzdem: »Mehr, mehr, mehr Waffen zu schicken, das ist durch nichts zu rechtfertigen, auch nicht mit dem russischen Angriff.« Es bringt den Frieden nicht. »Es ist zu viel Tod.«

Wie im falschen Film

Seine Frau Monika erträgt das nicht mehr. »Ich komme mir vor wie im falschen Film. Manchmal denke ich, vielleicht haben die Schreihälse recht. Dann sehe ich die vielen Toten, Zerstörung, Schmerz und Trauer auf beiden Seiten … und dann denke ich: Nein, die haben nicht recht.«

Sie ist groß geworden mit dem Satz: »Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin.« Monika M. sympathisiert damals mit den Grünen. Zurück »bleibt ein schlechter Geschmack. Für Machtbeteiligung zahlten die mit ihren Idealen.« Vor allem mit dem unveräußerlichen Prinzip »Nie wieder Krieg«. »Gucken Sie sich das an: kein Sensorium für das, was wirklich ist. Heute geben sie ohne Wimperzucken Milliarden für Waffen.«

Monika M. hat die Erzählung ihrer Eltern von den Bomben, die Bochum zu 60 Prozent total zerstörten, im Gedächtnis. Von dem Nachhall der Angst könnte sie erzählen und von der Angst in der Region, als die Stahlkrise kam, als Zechensterben ein Alle-Tage-Wort wurde. Ihr Vater, damals bei der Henrichshütte Hattingen, wurde in Kurzarbeit geschickt. »Im Land der 1.000 Feuer« erloschen die Feuer – das Aus für Arbeit und Arbeiter. Ein Höhepunkt des Kampfes dagegen war der Protest der Stahlkocher von Rheinhausen, mit ihnen gingen

Zehntausende auf die Barrikaden. Es begann einer der längsten Arbeitskämpfe in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Fünf Jahre später wird das Werk doch geschlossen.

Alles andere wäre ja auch wie im Märchen gewesen – oder »Spielt der Frosch jetzt Querflöte?« fragt mein Gesprächspartner Manfred Gürth. Na siehste. Er kennt die Bilder von damals. Das war die BRD. So ist es immer noch. Sieht man jetzt wieder in Hamburg bei der HHLA (Hamburger Hafen und Logistik AG). Aufsichtsräte entscheiden – keine Arbeiterräte. Die Verhältnisse sind nicht so. Sie zu verändern, ist seine Vision. Er nennt es Sozialismus. Ich werde es nicht erleben, stellt er fest, aber er will dafür tun, was er kann.

Schulzeit in der Sloman-Schule, benannt nach einem Hamburger Reeder. Auf dem Schulfoto der 6. Klasse blickt ein freundlicher Junge in die Kamera. Ein Kind wie die anderen. Klar, aber ... Manne Gürth erinnert sich genau an kleine feine Unterschiede, mit denen Lehrer das Arbeiterkind aus Veddel und den Kaufmannssohn aus Eppendorf behandelt haben. »So von oben herab.« Er fand das ungerecht. Trotz guter Leistungen bekam er keine Zulassung zum Gymnasium. Er wächst auf in Hamburg-Veddel, ein Arbeiterviertel wie Wilhelmsburg und Billstedt – Biotope der Armut. Sein Vater war Hochofenbauer in der Kupferhütte auf Peute. Schwerstarbeit von früh bis spät, abends noch ein Bier, bleierner Schlaf, früh wieder los. Nie wollte Manfred Gürth auf den Bau, dann muss er: Azubi, Geselle, Schuften im Akkord und 400 Mark – ein Schweinegeld damals, Moped, Mädchen, manchmal blauer Montag. Und jeden Tag Stein auf Stein, immer wieder bücken nach schweren Kalksandsteinen, Ziegelmauerwerk schleppen, Betondecken mit großen Karren schieben – »O Gott, hör uff!« Aus einem Architekturstudium wird nichts. »Studium und Arbeit auf dem Bau nebenbei, weil du kein BAföG kriegst … mach das mal. Akkord vernichtet dich. Irgendwann kriegste Wut.« Ungerechtigkeit wird sein Schlüssel zum politischen Denken. Ein Zufall kommt dazu: Die Freundin eines Freundes drückt ihm ein schmales Buch in die Hand: »Das kommunistische Manifest«. Zum ersten Mal liest er Karl Marx. »Auf einer Fahrt in der S-Bahn. Es war wirklich wie ein Blitz …, dann habe ich mit einem Mal begriffen, wer ich bin, wie das System funktioniert – und dass ich was machen kann gegen diese ganze Ungerechtigkeit.«

Zuverlässige Verbündete findet Gürth bei den Kommunisten, auch in dem Wollen und den Revolten der 68er, er ist in der Anti-Akw-Bewegung und bei der Besetzung von Grohnde dabei, kommt in Westberlin unter die Anarchisten, hofft auf »Die Linke«. Nun nicht mehr. In einem Brief an jW stellt er fest: »Sie sind weder Revolutionäre noch Straßenkämpfer. Sie sind ein egoistischer Haufen von Bürokraten. (…) Linke sprechen immer von uns und in unserem Namen, aber sie würden uns niemals aus dem Elend befreien, das können wir nur selber tun.« Sein Weg heißt Selbstorganisation und Aufklärung: »Wir waren eine kleine Gruppe und haben öffentliche Straßendiskussion in Altona, Barmbek und Billstedt gemacht, also Passanten ansprechen, reden über ihren Alltag« – der ganze elende Scheiß mit Mieten, Angst vor Stromkosten, Ärger mit Ämtern – das System gegen den Einzelnen und seine Lebensinteressen.

Auf einer Reise in die Normandie treffen er und seine Genossen in einer kleinen Stadt zufällig auf Demonstranten, »Gelbwesten«. »Sie erzählten uns, dass sie zum ersten Mal politisch aktiv geworden sind: Ungerechtigkeit und ihre soziale Situation hat sie zum Protest gebracht. Darauf waren sie stolz – für uns alle war es ein sehr starkes Gefühl der Gemeinsamkeit. Wie soll ich sagen: Es war sehr schön.« Gürth spricht von Mut und Geduld, von Hoffnung und Kampf. So fängt Veränderung an.

Ohne Rüschen und Randale

Ich weiß nicht, welcher Leserbrief von Gürth mich neugierig machte. Ich glaube, vor allem war es seine Sprache ohne Rüschen und Randale, die Hartnäckigkeit, mit der er die Verhältnisse ändern will. In vier Worten: »Tschüss, Kapitalismus, willkommen Sozialismus«. Ich schreibe es auf. »Etwas anders als eurer muss er dann aber sein.« Er meint die DDR. Wir einigen uns darauf, dass es erst mal ein guter Anfang war. Nicht perfekt, »aber ohne Kapitalismus ist schon mal richtig« – deshalb habe er am 9. November 1989 nicht gejubelt. »Ich wusste, wohin das führt. Das Kapital macht sich richtig breit – jetzt auch bei euch.« Gürth erzählt von den proletarischen Traditionen seiner Stadt: Ernst Thälmann, Hamburger Aufstand 1923, unvergessen der Altonaer Blutsonntag 1932, als Kommunisten und Sozial­demokraten gegen die SA demonstrierten. Wissen sollte man auch, dass die Ehrung vieler dieser Orte in der Hansestadt erst Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre begann. »Meistens durch linke Initiativen. Kommunistische Antifaschisten waren und sind bei den Pfeffersäcken nicht erwünscht.«

Nicht nur in der Stadt mit den meisten Millionären bundesweit – überall in der BRD war Antifaschismus eine politische Haltung, für die man in den Knast kommen konnte. Stapel von Gerichtsurteilen belegen es. Viele der damals »rechtmäßig« Verurteilten sind bis heute nicht rehabilitiert. Eine einzige »rechtmäßige« Schweinerei. Damals wie heute »legitimiert« mit der wahren Doktrin des Westens: dem Antikommunismus. Seit 1917. Auch wenn das Land der Oktoberrevolution längst eine stinknormale kapitalistische Großmacht ist, verhasster Gegner im geopolitischen Wettrennen – Russland als Feind ist geblieben. Zuverlässige Leit- und Kampflinie, auch, wenn es darum geht, den Protest gegen soziale und politische Verwahrlosung umzuleiten – am besten für eigene Interessen nutzbar zu machen. Praktisch zu erleben mit der Ad-hoc-Mobilisierung der bürgerlichen Mitte gegen Faschismus und Rechtsextremisten, bevor die in wabernder AfD-Gestalt den anderen Parteien die Abgeordnetensitze, also Geld und Geltung, Macht und Einfluss, reihenweise streitig macht. Das Geschrei ist groß – aber wer wundert sich da? Mehr als ein halbes Jahrhundert auf dem rechten Auge blind plus eklatantes Politikversagen zu Lasten der Wähler bleiben nicht folgenlos. Es ist der Nährboden, auf dem die AfD wuchert. Eine Schmarotzerpflanze. Die Saat des Dritten Reiches trug von Anfang an giftige Früchte in Westdeutschland – die ekelhafteste von allen: der Antisemitismus, die gefährlichste »Deutschland, Deutschland, über alles …«.

Im Dickicht meiner Dateien finde ich eine Anzeige aus dem Jahr 2017. »Russische Rollenspieler/innen für NATO-Übungen gesucht als Statisten für Rollenspiele bei Trainingseinsätzen der U. S. Army. Durch die Statisten wird die Zivilbevölkerung in Krisengebieten dargestellt.« Ein realitätsnahes Szenario für Soldaten und eine Vorbereitung für deren Auslandsmissionen. Russisch ausdrücklich erwünscht. Na, da weiß man doch gleich, wo der Feind sitzt, wohin der Marschbefehl führen soll. Es ist wie im alten deutschen Liedgut: Jeder Schuss ein Russ. Früher mal wahlweise jeder Stoß ein Franzos. Gegen Engelland ging es, Polen wurde abgebrannt, und der Zweite Weltkrieg begann: Zieleingabe Moskau.

Auf der sogenannten Sicherheitskonferenz in München vom 16. bis 18. Februar ging es ebenfalls um den Pelz des russischen Bären. Wer und vor allem womit beliefert und bezahlt man weiterhin die Ukraine – sonst wird es nichts mit der verkündeten Zeitenwende. Der mögliche nächste US-Präsident Donald Trump hat keine Lust, noch vor der Wahl seine Wähler zu schröpfen. Ausgerechnet wegen der Europäer! Inzwischen redet kein Mensch mehr davon, dass es die USA und Großbritannien waren, die die russisch-ukrainischen Friedensverhandlungen im Frühjahr 2022 platzen ließen, um Russland als Konkurrenten auszuschalten. Wenn Präsident Joseph Biden sonst keinen klaren Gedanken mehr fassen kann: »America First« geht immer. Danach kommt Germany. Nicht nur eine zerstrittene Schafsherde, wie man angesichts der Ampelfakten denken könnte, nein, eine politisch willfährige Clique an der Kandare der USA. Wie gehabt mit dem Feindbild Russland.

Oma will Krieg

Damit haben die Deutschen Erfahrung, mit Wehrmachtstrategie kennen sie sich aus – nur die krachende Niederlage wurde offenbar verdrängt. Geblieben sind die geistigen Wiedergänger in Gestalt von Politologen, Experten, Journalisten, Strategen, Historikern, Politikern, die nun »hü« und »Vorwärts an die Front« rufen. »Das hat er nun davon, der Iwan«, sagte ein süddeutscher Tourist am 24. Februar auf der Demonstration für die Ukraine am Brandenburger Tor. Eben noch hatte er Roderich Kiesewetter (CDU) ein »Bravo« zugerufen. Auch Oberst Kiesewetter will »den Krieg nach Russland tragen«. Ein grünes Gespensterpärchen – Ralf Fücks und Marieluise Beck – nervt in Dauerschleife: »Unsere Sicherheit wird am Dnjepr verteidigt.« Jawoll. Bomben auf Kommandozentralen, Ministerien, Fabriken, Raffinerien. Am besten wäre der Kreml – noch sagt es keiner. Eine klare Ansage. Es ist der Sound der Politik. So klingt es in Nachrichten und Talkshows, wo deutsche Abgeordnete mittlerweile über den Einsatz von Bodentruppen, gern auch von Atombomben plappern. »Das wird Russland ruinieren«, interpretierte bereits 2022 Annalena Baerbock, deutsche Außenministerin, die Politik und gab deutschem Führungsanspruch die Richtung.

Seit dem hat diese Regierung immer noch eins draufgesetzt, große Teile der westdeutschen Öffentlichkeit folgen wie Lemminge – möglicherweise in den Abgrund. Vorbei die Zeit der großen eindrucksvollen Demonstrationen für Frieden und gegen Aufrüstung in Westdeutschland: 1981, 1982, 1983 – »Künstler für den Frieden«. Die größte fand am 11. September 1982 im Bochumer Ruhrstadion statt. Zweihunderttausend gegen den NATO-Doppelbeschluss auf den Straßen in ihrer Heimatstadt. Monika M. ist 16 Jahre alt und erlebt ein buntes Fest für den Frieden. Protest gegen Militarisierung. Es prägte humanistische Haltung und politische Orientierung ihrer Generation. Unvergessen der Schauspieler Curt Bois. Er sagte nur drei Sätze: »Ich bin ein alter Mann. Ich habe zwei Weltkriege erlebt. Ich bin hierhergekommen, weil ich verhindern möchte, daß ein dritter Weltkrieg Sie und Ihre Kinder vernichtet.« 42 Jahre her. Da bekommt man Gänsehaut. »Habt ihr alles vergessen?« würde Monika M. am liebsten fragen. »Heute muß man sich entschuldigen, wenn man für Frieden ist! Gegen Waffenlieferungen, die nichts, gar nichts besser machen! Inzwischen gibt es ein Klima des Mißtrauens … Ich überlege mir schon, wo ich noch offen rede... Ich finde das schlimm.« Unglaublich, was hier geschieht. Werden sich die »Macher« dafür mal verantworten? – fragen Monika M. und ihr Mann. Dann sagt sie: »Nee. Ich glaube nicht, dass irgendeiner noch ein Gewissen hat.« Als wäre Krieg ein Fingerschnipsen.

Wenn man liest oder – Gott bewahre – gar hört und sieht, wie die FDP-Rentnerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann die Kriegstrommel schlägt, dann möchte man fürsorglich sagen: Omi, bitte nicht aufregen. Hilft aber nichts: Die Waffenlobbyistin will Waffen verhökern und demonstriert es auf einem T-Shirt mit aufgedrucktem Stierkopf, lateinisch TAURUS, dazu die Zeile »Zusammen bis zum Sieg«. Tja… So findet das Lied von der Motorrad fahrenden Oma im Hühnerstall eine zeitgemäße Fortsetzung: »Meine Oma … schießt mit TAURUS auf die Russen…« – ein schöner kulturvoller Beitrag zur frühzeitigen Wehrertüchtigung. Damit die kleinen Racker ein Ziel vor Augen haben – wenn schon keinen Schulabschluss. Es passt zum Bild der aktuellen Ampelperformance.

Allerdings war keine Show so erhellend wie die mit Wolodimir S. in der »Wir sind eins. ARD«. Da plauderte er von seinem »fast«-besten Freund Olaf S. und dessen Fähigkeiten, krönte ihn zum ultimativen Führer für ganz Europa, freute sich auf Waffen und Milliarden, vor allem auf die Blankokarte der EU. Dann wissen »unsere Bürger« endlich, in welche Kanäle ihre Steuergelder fließen, warum gekürzt wird und nicht viel übrig bleibt für Bildung, Gesundheit, Wohnungsbau. Dann lassen die vielleicht mal Streiks, Demonstrationen für sozialen Kram und ihre tariflichen Forderungen sein. Da kann die Regierung doch wohl Verständnis erwarten, dass Steuerkohle in der bankrotten Ukraine verheizt wird. Möglich, dass davon für den einen oder anderen hochrangigen Hilfeempfänger in Kiew noch eine nette Immobilie abfällt. Vielleicht am Mittelmeer, auf den Seychellen oder in Wandlitz – die Wege des Geldes sind unerforschlich. Fest steht: billig wird das nicht.

Muss aber sein, tönt es aus allen Kanälen: Mobil­machung. Schließlich geht es um die neue Weltordnung – schon vergessen? Nach 1914, 1939 nun der dritte Großversuch, Welt und Menschheit nach imperialen Interessen umzumodeln. Alles zu Nutzen und Frommen des Westens, was je nach Interessenlage Taiwan oder Naher Osten oder eben Ukraine heißen kann. Die Welt ist groß, und überall ist was zu holen. Also nackig machen, ihr Völker Europas: Die Zeche zahlt ihr. Rüstungskonzerne verzeichnen Profite wie lange nicht. Wir verbürgen uns für Deutschlands Sicherheitsinteressen, versprach Rheinmetall-Chef Armin Papperger kürzlich und lässt Waffenbetriebe in der Ukraine bauen – schön dicht ran an Russlands Grenze.

Das Monströse des Systems zeigt sich deutlich, schreibt Manfred Gürth im Leserbrief am 26. April 2023: »Es ist ganz banal nur der Profit. Oder wie Marx sagte: Wenn der Kapitalist nicht den Schatten des Baumes verkaufen kann, dann sägt er den Baum ab.« Von wegen »Werte«! »Mit Waffenproduktion lassen sich ungeahnte Profite erzielen.« Nicht ganz unüberlegt habe die Bremer Lürssen-Werft Blohm und Voss aufgekauft. »Dort werden wieder Fregatten gebaut, ganz in der Tradition der Nazis – die ›Bismarck‹ ging bei Blohm und Voss von Reede. Da sind die heute immer noch stolz drauf.«

Merkt Ihr nischt?

Wachstumsbranche Krieg. Mit Granaten für – vergleichsweise – lächerliche eine Milliarde Euro, mit Marschflugkörpern, mit der Produktion von Drohnen, boomt der Laden. Wie ist das nun mit dem TAURUS-Waffensystem? Ein ukrainischer Herzenswunsch, natürlich. Aber nun sagt der Kanzler Nein. Fast möchte man dankbar sein, dass er laut über Konsequenzen des »ob oder ob nicht« nachdenkt. Da wird es bei der TAURUS Systems GmbH geklingelt haben – so oder so. Die GmbH ist ein Joint Venture von MBDA Deutschland, die 67 Prozent hält, sowie der schwedischen Saab Dynamics AB mit 33 Prozent. Deutschland besitzt mit etwa 600 TAURUS die meisten Marschflugkörper dieses Systems, Stückpreis 950.000 Euro. Ist die Firma eigentlich an der Börse?

Alles keine Überraschung, auch die breite mediale Schützenhilfe nicht. So viel Linientreue … soviel Anmaßung. Auf die alte Frage »Kanonen oder Butter?« gibt es traditionell nur eine »demokratische« Antwort: Kanonen! »Merkt Ihr nischt?«, fragte Kurt Tucholsky alias Theobald Tiger bereits vor 100 Jahren seine Leser. Winston Churchill soll auf die Frage, wie Kriegswirtschaft finanziert wird, gesagt haben: »mit Steuern von den Armen«. Die haben zwar nicht viel, aber es sind viele. Bauarbeiter Manfred Gürth ergänzt den englischen Premier mit einem Marx-Zitat. Im Dezember 2022 schreibt er: »Banken, Konzerne und Krieg haben Vorrang vor dem Volk. Die Steuern haben ›gerade (…) den Zweck (…), den Bourgeois die Mittel zu verschaffen, sich als herrschende Klasse zu behaupten‹.«

So sieht’s aus. Die Kohle wird schon reichen, um die von Scholz und Selenskij unterzeichnete langfristige Sicherheitspartnerschaft auch dann noch zu finanzieren, wenn der Rest krachen geht. So ist das unter Waffenbrüdern. So schlecht waren die Aussichten noch nie. Selbst im Kalten Krieg bewiesen die Akteure mehr Verstand und sogar Verantwortung.

*

Dann gibt es nur eins.

Burga Kalinowski schrieb an dieser Stelle zuletzt am 3. Januar 2024 über die Erfindung des Kaffee-Mix in der DDR und deren Wirtschaftsbeziehungen zu Vietnam: »Alles Geikel, was die uns erzählen!«.

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  • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (8. März 2024 um 08:46 Uhr)
    Erneut vielen Dank an Burga Kalinowski für ihre berührenden Artikel. Ein Satz fiel mir besonders auf: »Im Dickicht meiner Dateien finde ich eine Anzeige aus dem Jahr 2017. ›Russische Rollenspieler/innen für NATO-Übungen gesucht als Statisten für Rollenspiele bei Trainingseinsätzen der U. S. Army.‹« Ehrlich gesagt, halte ich das für keine besondere Überraschung. Doch im Dickicht meiner Erinnerungen tauchen da sofort drei andere Dinge auf: 1. Das Pentagon suchte ebenfalls per Anzeige Russen als Spender von Erbmaterial 2. Die USA unterhielten in der Ukraine zahlreiche Biowaffenlabore, wo sie ja die Spender auch ohne deren Wissen unter den ukrainischen Soldaten russischer Nationalität bei medizinischen Untersuchungen oder Behandlungen im Krankenhaus direkt in der Nachbarschaft frei Haus geliefert bekamen. 3. Die Ukraine fragte bei der Bestellung von Drohnen in der Türkei an, ob diese auch Flüssigkeiten transportieren und versprühen könnten. Nun gibt es ja das Problem, dass der Einsatz von bakteriologischen oder chemischen Waffen sich nicht auf Soldaten in einem bestimmten Schützengraben begrenzen lässt. Der Wind geht in alle Richtungen. Kiew würde damit die gesamte Zivilbevölkerung, die es vorgibt zu »befreien« oder zu »schützen« einem Risiko aussetzen, welches sich – wie auch bei der bereits verwendeten Uranmunition – über Generationen erstrecken kann. Selbst Hitler genehmigte den Einsatz von Sarin an der Front nicht, auf Grund seiner eigenen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg. Als Soldat erblindete er zeitweise und lag in Pasewalk im Lazarett, gerade als Lenin mit Genehmigung der kaiserlichen deutschen Regierung im Zug durch diese Stadt Richtung Nordosten fuhr – Zufall der Geschichte. Diese Sarinvorräte liegen nun auf dem Grund der Ostsee, wohin sie die westlichen Alliierten verfrachteten. Vorschlag: Der Staat, welcher dieses Sarin produzierte und die Staaten, welche es in die Ostsee schütteten, verwenden das »Sondervermögen« umgehend für die Beseitigung.

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