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Aus: Ausgabe vom 07.03.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Alle Hände voll zu tun

Éric Gravels Film »Julie – Eine Frau gibt nicht auf« über das Erwerbsleben einer alleinerziehenden Mutter
Von Holger Römers
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Leiterin der Zimmermädchenbrigade eines Luxushotels: Laure Calamy (M.) als Julie

Klarer als »Julie – Eine Frau gibt nicht auf« kann eine Charakterstudie kaum aufgebaut sein. Die Handlung beginnt damit, dass die titelgebende Protagonistin (Laure Calamy) vom Wecker aus dem Schlaf gerissen wird, ihren beiden Kindern das Frühstück zubereitet, sie der Obhut einer benachbarten Seniorin (Geneviève Mnich) überlässt und im Morgengrauen mit einem Pendlerzug aus dem Umland nach Paris fährt. Dort erhalten wir sogleich einen Eindruck von der Arbeit, die Julie als Leiterin der Zimmermädchenbrigade eines Luxushotels verrichtet, dessen Anspruch auf Perfektion selbstverständlich Schufterei voraussetzt. Entsprechend erschöpft ist Julie, wenn sie nach Sonnenuntergang zu Hause ankommt – bevor sich der Ablauf in den Folgetagen mit leichten Variationen wiederholen wird.

Anruf der Bank

Nun kann Regisseur Éric Gravel, der zu seinem zweiten Spielfilm auch das Drehbuch verfasst hat, die Alltagsdinge noch knapper schildern und dem biographischen Hintergrund seiner Hauptfigur zunehmend Raum bieten. So lässt er Julie zu Protokoll geben, dass sie ihren kleinstädtischen Wohnort gewählt hat, weil er zwischen ihrer Arbeitsstelle und dem Wohnsitz ihres neu liierten Exmannes liegt und sie nicht in einem »Hühnerkäfig« leben will, wie sie die Vorstadtwohnung einer Kollegin nennt. Dieser Wunsch nach Distinktion ergibt sich, wie wir erfahren, aus einem Wirtschaftsstudium und entsprechender Berufserfahrung: Eine begonnene Karriere in der Marktforschung wurde vier Jahre zuvor offenbar durch den Konkurs des Unternehmens unterbrochen. Da waren Julies Kinder noch kleiner und der mittlerweile unsichtbare Ex wohl noch an ihrer Seite.

Dass die Suche nach einer neuen Anstellung im angestammten Beruf lange vergebens blieb, erwähnt Julie, wenn sie dem Verdacht ihrer aktuellen Chefin (Anne Suarez) widerspricht, für die Beseitigung der »Scheiße reicher Leute« nicht ausreichend motiviert zu sein. Um so deutlicher zeichnet sich freilich der Scheideweg ab, den nach der Hälfte der Filmdauer ein bevorstehendes Bewerbungsgespräch markiert.

Zuvor verschärft der 1970 geborene frankokanadische Filmemacher die Lage seiner Hauptfigur durch gezieltes Anhäufen von Hindernissen: Nicht nur muss Julie zur gleichen Zeit die Geburtstagsfeier ihres Sohnes vorbereiten, sondern auch noch ergebnislos dem Ex hinterhertelefonieren, dessen Unterhaltszahlung wohl nicht zum ersten Mal ausgeblieben ist, wie ein mahnender Anruf der Bank mutmaßen lässt. Vor allem weisen Radionachrichten aus dem Off mehrfach auf eine landesweite Protestbewegung hin, deren Streiks das zermürbende Pendeln zum Glücksspiel machen.

Dass Mathilde Van de Moortels Montage der von hektischer Geschäftigkeit bestimmten, regnerisch-kühlen Alltagsimpressionen ein Höchstmaß an Ökonomie erreicht, macht erst recht die genaue Konstruktion dieses Handlungsrahmens bewusst. Um so effektiver kann im Kontrast zu Irène Drésels nervösen Synthesizerklängen wiederum kurze Stille hervortreten, als sich Julie vor ihrem Vorstellungsgespräch innerlich sammelt, wobei ihre bewundernswerte Konzentrationsfähigkeit noch dadurch unterstrichen wird, dass im Bürohochhaus gläserne Wände den Blick auf die protzige Raumverschwendung eines mehrstöckigen Atriums lenken.

Erfreulich nüchtern

So ist die vom deutschen Titel implizierte Lesart möglich, dass dieser Superfrau die Selbstverwirklichung glücken könnte. Und dass anderen bei ebenso vorbildlicher Selbstdisziplin ebenfalls das Kunststück gelingen könnte, die Alleinerziehung der Kinder und die Karriere zur eigenen Zufriedenheit unter einen Hut zu bekommen – selbst wenn das Patriarchat in Gestalt notorisch unzuverlässiger (Ex-)Partner durch vermeintlich unnötige Konflikte die Sache erschweren mögen. Doch dieser erfreulich nüchterne Film lässt mit offenkundiger Absicht auch die gegenteilige Deutung zu: dass nämlich unter den skizzierten Bedingungen der Weg zu einem glücklichen Ausgang trotz aller individuellen Anstrengungen verbaut bleiben muss.

Schon der Originaltitel »À plein temps« (»vollzeitbeschäftigt«) schneidet das Problem des Zeitmangels an, das sich durch die erhoffte neue Anstellung noch verschärfen würde, da im Bewerbungsgespräch sogleich auf »lange Arbeitstage« hingewiesen wird. Beginnend mit dem ersten Bild lenkt Gravel unsere Aufmerksamkeit auch regelmäßig auf den Schlaf, den Julie nachts nicht immer findet und der sie bei seltener Ruhe unwillkürlich überfällt. Dann bieten Traumfetzen einen seltenen Einblick ins Seelenleben dieser Frau: Ihr Unbewusstes lässt sie scheinbar unbeschwert am Strand planschen – wo eine zunächst harmlose Welle sie freilich prompt zu überwältigen droht.

»Julie – Eine Frau gibt nicht auf«, Regie: Éric Gravel, Frankreich 2021, 88 Min., Kinostart: heute

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