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Aus: Ausgabe vom 07.03.2024, Seite 8 / Ansichten

Interventionsdrohung

Gewalteskalation auf Haiti
Von Volker Hermsdorf
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Die Barrikaden brennen wieder in den Straßen von Port-au-Prince (1.3.2024)

Seit Jahren kontrollieren Gangs große Teile von Haitis Hauptstadt. Und spätestens seit dem Mord an Präsident Jovenel Moïse im Jahr 2021 versinkt der Karibikstaat immer tiefer in Gewalt und Chaos. Dem von den USA und ihren westlichen Verbündeten installierten Regierungschef Ariel Henry droht jetzt sogar der Sturz, wenn nicht Schlimmeres. Diese Entwicklung hatten die USA, Kanada und ihre Verbündeten offenbar befürchtet. Schon lange vor der aktuellen Zuspitzung der Krise forderten sie eine neue bewaffnete Intervention, scheiterten bisher jedoch unter anderem am Einspruch Russlands und Chinas. Trotz anfänglichem Zögern schlossen sich einige Länder der Region dann im vergangenen Jahr der Forderung an, nachdem die Regierung von Ariel Henry offiziell um internationale Unterstützung gebeten hatte. Angeblich, um den Terror der Banden zu beenden.

Die Forderung des nicht gewählten Premiers, erneut ausländische Kräfte ins Land zu holen, wirft Fragen auf. Denn keine der vergangenen militärischen Interventionen hat irgend etwas zum Besseren verändert. Im Gegenteil. Der letzte von den Vereinten Nationen abgesegnete Einsatz dieser Art, die von 2004 bis 2017 dauernde Mission MINUSTAH, blieb den Haitianern vor allem durch sexuelle Übergriffe von UN-Blauhelmen gegen Frauen und Mädchen im Kindesalter in schlechter Erinnerung. Im Jahr 2010 führte die Verunreinigung eines Flusses durch Fäkalien der Friedenstruppen dann zu einer Choleraepidemie, an der mehr als 10.000 Menschen starben. Da den Haitianern offenbar kein eigenständiger Weg aus der Krise zugetraut wird, soll nun ausgerechnet eine Truppe der für Menschenrechtsverletzungen berüchtigten kenianischen Polizei – in Abstimmung mit einer nicht legitimierten Regierung – das Problem lösen.

Niemand dürfte ernsthaft glauben, dass 1.000 Polizisten aus Kenia mit rund 200 schwerbewaffneten Gangs fertig werden, deren brutale Gewalt zweifellos dramatisch und für die Bevölkerung unerträglich ist. Doch die kriminellen Banden seien keine Naturgewalt, sondern »die Kinder, die ihr der haitianischen Republik gemacht habt«, hält der Schriftsteller Lyonel Trouillot den Mächtigen im globalen Norden entgegen. Er und andere Kritiker fürchten, dass eine Intervention die Probleme nicht lösen, sondern verschlimmern und die Souveränität und Unabhängigkeit ihres Landes gefährden könnte.

Ein Verdacht, der begründet erscheint, da die Forderung nach einer Intervention vor allem durch die USA vorangetrieben wurde. »Sie gilt als Pilotprojekt für eine neue US-Strategie, die lokale Konflikte eindämmen soll«, gibt die Hilfsorganisation Medico International zu bedenken. Am Beispiel Haitis wollten die USA ihre schwindende globale Handlungsfähigkeit wiederbeleben. US-Dienste wie USAID und NED stehen vermutlich schon in den Startlöchern. Das gilt es, bei allem Entsetzen über die Gewalt der Gangs, zu bedenken.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Martin M. aus Paris (6. März 2024 um 21:06 Uhr)
    Auch hier hat der »demokratische« Westen (insbesondere die USA und Frankreich) viel zu dieser schlimmen Lage, vor allem für die Bevölkerung, beigetragen, indem sie den gewählten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide 2004 ins Exil zwangen. Dabei setzten sie ihn auch mit Drohungen gegen seine kleinen Töchter unter Druck. Aristide war beliebt in Haiti, da er u. a. Reformen im Bildungs- und Gesundheitssektor durchgeführt hat.

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