4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 07.03.2024, Seite 8 / Inland
Hanau-Gedenken in Gießen

»Sie wollen abweichende Meinungen ausschließen«

Hessen: Vorfall bei Hanau-Gedenkdemo in Gießen ruft CDU-Stadtfraktion auf den Plan. Ein Gespräch mit Anna L.
Interview: Tim Jahnke
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Hanau-Gedenkdemonstration am 19. Februar 2024 in Gießen

Bei der Gedenkveranstaltung für die Opfer des rassistischen Anschlags von Hanau 2020 soll es in Gießen zu Auseinandersetzungen gekommen sein. Was ist am 19. Februar dort passiert?

Wir nahmen auch dieses Jahr an der Hanau-Gedenkdemo in Gießen teil. Unser Ziel war es, die Bedeutung des internationalen Kampfes gegen Rassismus zu betonen, was wir durch das Tragen von Schildern mit Aufschriften wie »Hanau war kein Einzelfall«, »Kampf gegen Rassismus = Kampf gegen Apartheid« und »Ob Hanau oder Gaza, Rassismus hat System – Kapitalismus ist das Problem« verdeutlichten. Beim Versuch, uns in die Demo einzureihen, wurde eine unserer Teilnehmerinnen von einem Mann abgepasst, der non stop auf sie einredete. Er behauptete, aufgrund unserer Schilder auf seine geplante Rede als jüdischer Vertreter zu verzichten und die Demo verlassen zu wollen. Er verweigerte unserer Teilnehmerin das Wort und reagierte zunehmend aggressiv, als eine weitere Frau aus unserer Gruppe hinzukam. Diese versuchte, auf die Bedeutung der internationalen Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus hinzuweisen. Er übertönte ihre Aussage und erklärte wiederholt, die Demonstration wegen uns verlassen zu wollen.

Laut Gießener Anzeiger handelte es sich bei dem Mann um ein ehemaliges Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde Gießen. Er sei von Mitgliedern Ihrer Gruppe angegangen worden.

In Anbetracht der offensichtlich fehlenden Dialogbereitschaft und um weitere Belästigungen zu unterbinden, forderte eine unserer Genossinnen den Mann mit den Worten »verpiss dich« auf, sich von uns zu entfernen. Daraufhin inszenierte er lautstark den Vorwurf, geschubst worden zu sein. Es gibt mehrere Teilnehmer der Demo, die bezeugen können, dass dies nicht geschehen ist.

Welche Dynamik entwickelte diese Auseinandersetzung in der Stadtgesellschaft?

Am Tag nach der Demo wurde bekannt, dass die Polizei proaktiv Ermittlungen wegen Körperverletzung aufgenommen haben soll. In der Lokalpresse begann eine intensive Berichterstattung. Durch das größte lokale Presseorgan, die Gießener Allgemeine Zeitung, wurde der angebliche »Vorfall« in acht Tagen nahezu täglich aufgegriffen. Schließlich wurde es Thema im Stadtparlament. Dort reichte die CDU einen Dringlichkeitsantrag mit der Forderung eines Nutzungsverbots von städtisch finanzierten Räumen für unsere Zusammenhänge ein.

Wie fiel die Entscheidung aus?

Alle Parteien von AfD bis Die Linke stimmten zu, dass der Vorstoß geprüft werden soll. Eine Gegenstimme gab es nur von der DKP. Die CDU begründete ihren Antrag mit der vorgeblichen Leugnung des Existenzrechts Israels durch unsere Strukturen. Einen Beleg konnte sie dafür nicht erbringen, da es diesen nicht geben kann. In den folgenden Tagen wurde Druck auf die lokale Kulturgenossenschaft aufgebaut, die seit vielen Jahren Räume neben der ARAG an unterschiedliche politische und künstlerische Akteure Gießens vermietet. Sie sollte dazu gebracht werden, die Kooperation mit uns sofort einzustellen.

Hat diese Auseinandersetzung eine Vorgeschichte?

Bereits wenige Wochen nach Beginn des Krieges in Gaza wurde der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Gießen mit mehreren Artikeln der Raum gegeben, ihre kontroverse Perspektive zum Thema Antisemitismus zu äußern. Das erkennbare Ziel: kommunistischen Organisationen ihre Infrastruktur entziehen und sie mit dem Vorwurf des Antisemitismus diffamieren. Auch da wurde schon Druck auf die Kulturgenossenschaft ausgeübt. Das Vorhaben, uns von jener Infrastruktur abzuschneiden, war Ende 2023 nicht erfolgreich. Nun scheint dies erneut versucht zu werden.

Welche Motive vermuten Sie dahinter?

Man kann zu dem Schluss kommen, dass es den Akteuren nicht aufrichtig darum geht, Antisemitismus zu bekämpfen. Der Vorwurf wird konstruiert, um unter dem Vorwand, die bürgerliche Demokratie zu verteidigen, abweichende Meinungen auszuschließen. Unsere klare antimilitaristische und antiimperialistische Position wird als Dissens wahrgenommen, der unerwünscht ist.

Anna L. (Name geändert) ist Mitglied der »Antifaschistischen Revolutionären Aktion Gießen« (ARAG)

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