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Aus: Ausgabe vom 07.03.2024, Seite 6 / Ausland
Nordirlandkonflikt

Keine Immunität vor Strafverfolgung

Nordirland: Gesetz für britische Soldaten verstößt gegen Europäische Menschenrechtskonvention
Von Dieter Reinisch
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»Schützt die Rechtsansprüche der Opfer«: Opferangehörige demonstrieren vor dem Obersten Gericht in Belfast (28.2.2024)

Die bedingte Immunität als Schutz vor Strafverfolgung für Verbrechen, die bis 1998 während des Nordirlandkonflikts begangenen wurden, verstößt nach einem Urteil des Obersten Gerichtshofs von Belfast gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Die Angehörigen der Opfer sehen das Urteil, das vergangenen Mittwoch erging, als ersten Schritt auf dem Weg Gerechtigkeit zu erlangen, erklärten sie nach der Urteilsverkündung. Mehr als 20 Hinterbliebene hatten das »Gesetz über den Nordirlandkonflikt (Vermächtnis und Versöhnung)«, kurz Troubles Act genannt, rechtlich angefochten. Richter Adrian Colton erklärte nun, der Abschnitt des Gesetzes, der vergangenen September vom Parlament in London abgenickt wurde, sollte außer Kraft gesetzt werden. Er bietet denjenigen Immunität vor Strafverfolgung, die uneingeschränkt mit einer neuen Ermittlungsbehörde namens Independent Commission for Reconciliation and Information Recovery (ICRIR, Unabhängige Kommission für Versöhnung und Informationsgewinnung) kooperieren.

Laut Richter Colton würde es nicht nur gegen die EMRK, sondern auch gegen das Karfreitagsabkommen von 1998, das den Konflikt beilegen sollte, verstoßen. Colton urteilte: »Ich bin davon überzeugt, dass die Immunität vor Strafverfolgung gemäß Abschnitt 19 des Northern Ireland Troubles Act eine Verletzung der Rechte des Hauptantragstellers gemäß Artikel 2 der EMRK darstellt. Ich bin auch davon überzeugt, dass sie einen Verstoß gegen Artikel 3 der EMRK darstellt.« In diesen geht es um das Recht auf Leben und das Folterverbot. Es gebe »keine Beweise dafür, dass die Gewährung der Immunität nach dem Gesetz in irgendeiner Weise zur Aussöhnung in Nordirland beitragen wird. Die Beweise sprechen vielmehr für das Gegenteil«, so Colton weiter, der mehr als zwei Stunden damit verbrachte, das 200seitige Urteil zu verlesen.

London verteidigte das Gesetz und kündigte an, in Berufung zu gehen. Der britische Nordirland-Staatssekretär, Christopher Heaton-Harris, erklärte im Namen der Regierung, man bleibe dessen Umsetzung verpflichtet. Ein Anwalt der Regierung argumentierte, dass es eine »logische Weiterentwicklung« des Karfreitagsabkommens von 1998 sei und einen Schlussstrich unter den Konflikt ziehen könne.

Die Familien der Opfer, Menschenrechtsorganisationen und alle großen politischen Parteien in Nordirland, sowohl britische Unionisten als auch Nationalisten und Republikaner, sind gegen das Gesetz. Die Anwälte der Beschwerdeführer teilten dem Gericht mit, dass die Familien der Opfer, die seit Jahrzehnten Gerechtigkeit suchten, »eine Form sekundären Traumas« erlitten hätten. Einzig von Veteranenverbänden wird das Gesetz begrüßt.

Das Pat Finucane Centre in Derry, das Opfer und ihre Angehörige unterstützt, schrieb in einer Stellungnahme auf X: »Die britische Regierung versuchte, diese Gesetzgebung als Mittel zur Förderung der Versöhnung und der Wiederherstellung der Wahrheit zu verkaufen. Sie motivierten die Täter mit dem Versprechen der Immunität, während sie in Wirklichkeit die Veteranen schützen wollten.« Sie fordern die Regierung auf, »den Opfern zuzuhören und das Gesetz zurückzunehmen«. Die Amnesty-International-Direktorin für Großbritannien und Nordirland, Gráinne Teggart, begrüßte gegenüber dem Sender ITV das Urteil: »Das ist für viele Opfer eine wichtige und bedeutende Entwicklung.« Ihre Organisation werde nun weiterkämpfen, »bis die Rechte der Opfer durchgesetzt sind«.

Der irische Außenminister Micheál Martin erklärte nach dem Urteil gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Sender RTÉ, dass der Urteilsspruch die Vorgehensweise der irischen Regierung »widerspiegelt und untermauert«. Dublin reichte beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Januar eine gesonderte Klage gegen Großbritannien ein und argumentiert dort ebenfalls, dass das britische Gesetz mit der Europäischen Konvention unvereinbar sei.

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