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Aus: Ausgabe vom 07.03.2024, Seite 7 / Ausland
Haiti

Drohung mit Krieg

Gewalteskalation in Haiti. Abtritt von nicht gewähltem Premier gefordert. Interventionstruppen stehen bereit
Von Volker Hermsdorf
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Jimmy »Barbecue« Chérizier, ehemaliger Polizist und Anführer der »G9«-Gang Alliance in Port-au-Prince (5.3.2024)

In Haiti sind die Unruhen zu Beginn der Woche eskaliert. Am Montag kam es in mehreren Stadtteilen von Port-au-Prince erneut zu Schießereien und Plünderungen. Am Flughafen der Hauptstadt traten Armee- und Polizeieinheiten schwerbewaffneten Banden entgegen, die die Kontrolle über die Einrichtung übernehmen wollten. Im Laufe des Tages wurden alle Flüge gestrichen. Während Tausende Haitianer vor der Gewalt flohen, riefen einige Nachbarländer ihre Botschaftsmitarbeiter zurück. Der UN-Sicherheitsrat wollte am Mittwoch (Ortszeit) unter Ausschluss der Öffentlichkeit über die Lage in dem Karibikstaat beraten.

Der neuen Gewaltwelle vorausgegangen waren Attacken krimineller Gangs auf die beiden größten Gefängnisse des Landes, bei denen fast 4.000 Häftlinge fliehen konnten. Die Regierung verhängte daraufhin den Ausnahmezustand und eine für zunächst 72 Stunden geltende Ausgangssperre. Der Angriff auf den Hauptflughafen Toussaint Louverture erfolgte, als sich Gerüchte über eine baldige Rückkehr von Premierminister Ariel Henry verdichteten. Wenn Henry nicht abtritt, »steuern wir auf einen Bürgerkrieg zu, der zu einem Völkermord führen wird«, drohte Bandenchef Jimmy »Barbecue« Chérizier, ein ehemaliger Elitepolizist. Henry war in der vergangenen Woche zu Gesprächen über einen internationalen »Polizeieinsatz« nach Kenia gereist, galt danach einige Tage als verschollen und tauchte am Dienstag abend in Puerto Rico wieder auf. Er war im Juli 2021 nach dem Mord an Präsident Jovenel Moïse mit Zustimmung der USA, Deutschlands und anderer westlicher Staaten ins Amt gehievt worden, ohne sich einer Wahl zu stellen. Einem Bericht des Onlineportals Gazette Haïti zufolge, verbündet sich derzeit auch der linkssozialdemokratische Oppositionspolitiker Jean-Charles Moïse mit dem von ihm jahrelang als politischer Gegner bekämpften rechten Guy Philippe, um Henry zu stürzen.

Wegen der Schießereien blieben Schulen, Universitäten, private Einrichtungen und öffentliche Institutionen in der Hauptstadt geschlossen. In Teilen der Stadt wird das Trinkwasser knapp. Bei zugleich steigenden Flüchtlingszahlen wird ein erneuter Choleraausbruch befürchtet. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration sind in drei Tagen rund 15.000 Menschen aus Port-au-Prince geflohen, viele aus behelfsmäßigen Lagern in Schulen, Krankenhäusern und auf Plätzen, in die sie bereits verlegt worden waren. Die Vereinten Nationen schätzen die Gesamtzahl der Geflüchteten auf mittlerweile 300.000 Personen. Hilfsorganisationen fordern, vorrangig die Versorgung der Menschen mit medizinischer Unterstützung und Nahrungsmitteln zu organisieren.

Das Chaos in dem gut 11,5 Millionen Einwohner zählenden ärmsten Land des amerikanischen Kontinents beunruhigt auch dessen Nachbarn. Die Dominikanische Republik, die sich die Insel Hispaniola mit Haiti teilt und im vergangenen Jahr Zehntausende Haitianer abgeschoben hat, zieht einen Grenzzaun hoch. Präsident Luis Abinader schloss die Einrichtung von Flüchtlingslagern in seinem Land kategorisch aus. Am Dienstag wurde der Passagier- und Frachtflugbetrieb zwischen beiden Ländern eingestellt. Unterdessen rief die Regierung der Bahamas ihr Botschaftspersonal bis auf den Geschäftsträger und zwei Sicherheitsattachés zurück, während die diplomatische Vertretung Kanadas die Mission für Besucher schloss. Mexiko empfahl seinen Staatsangehörigen, sich mit Wasser und Lebensmitteln einzudecken. Auch die spanische Botschaft bat alle Landsleute, »ihre Bewegungen einzuschränken und Vorräte anzulegen«. Die USA forderten ihre Bürger auf, Haiti »so schnell wie möglich« zu verlassen.

Angesichts der Eskalation habe sich UN-Generalsekretär António Guterres »zutiefst besorgt über die sich verschlechternde Sicherheitslage in Port-au-Prince geäußert«, erklärte dessen Sprecher Stéphane Dujarric. Eine von den haitianischen Bevölkerung abgelehnte internationale Intervention dürfte unmittelbar bevorstehen. Wenn die Finanzierung der »Mission« gesichert ist, könnten kenianische Truppen in 72 Stunden einsatzbereit sein, meldete die US-Zeitung Miami Herald am Dienstag.

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