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Aus: Ausgabe vom 07.03.2024, Seite 6 / Ausland
Polen

Kaczyńskis Klassenjustiz

Polen: Tomasz Komenda saß 18 Jahre für Vergewaltigung ein, die er nicht begangen hatte. Politischer Druck führte zu Verurteilung
Von Reinhard Lauterbach
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Erleichterung: Ein »Justizirrtum« brachte Tomasz Komenda in den Knast, 2018 wurde er entlassen (Warschau, 28.5.2018)

Ende Februar ist in Wrocław der 47jährige Tomasz Komenda verstorben. Sein Name sagt außerhalb der Grenzen wahrscheinlich niemandem etwas, aber in Polen steht er für einen Justizapparat, der bei wackliger Beweislage jemanden für eine Tat verurteilt hat, die er nicht begangen hatte. Denn von oben wurde Druck gemacht, das jahrelang auf der Stelle tretende Ermittlungsverfahren mit einer Verurteilung abzuschließen.

Die Geschichte begann in der Silvesternacht 1996/97. Die 15jährige Małgorzata Kwiatkowska feierte in einer Dorfdisco in Miłoszyce 30 Kilometer östlich von Wrocław. Am Neujahrsmorgen wurde sie in der Nähe gefunden, offenbar mehrfach vergewaltigt und dann nackt im Schnee liegen gelassen. Die unmittelbare Todesursache war Erfrieren.

Drei Jahre lang ermittelte die Polizei ohne Ergebnis. 1999 wurde der Fall in einem Fernsehformat ähnlich dem deutschen »Aktenzeichen XY … ungelöst« aufgegriffen. Daraufhin meldete sich eine Frau bei der Polizei, die angab, das Phantombild des Täters könne den Enkel ihrer Nachbarin darstellen: eben jenen Tomasz Komenda, Arbeiter in einer Autowaschanlage. Er kam in Untersuchungshaft, bestritt die Vorwürfe und gab an, zur Tatzeit in seiner Wohnung in Wrocław gefeiert zu haben. Zwölf Gäste bestätigten sein Alibi. Umgekehrt konnte sich auch keiner der etwa 300 Gäste der Silvesterdisco erinnern, ihn gesehen zu haben. Auch der Umstand, dass Komenda kein Auto besaß und es in der Tatnacht keine öffentliche Verkehrsverbindung zum Tatort gab, wurde nicht entlastend berücksichtigt. Nach Komendas eigenen Angaben wurde er von der Polizei genötigt, die Täterschaft zuzugeben. Ansonsten werde er das Vernehmungszimmer nicht lebend verlassen, sei ihm angedroht worden. Einer der Polizisten habe offen gesagt, der Fall müsse endlich abgeschlossen werden, koste es, was es wolle.

Es gab in der Angelegenheit offenkundig politischen Druck. Der damalige Justizminister Lech Kaczyński warf dem Staatsanwalt vor, selbst »moralisch verkümmert« zu sein, wenn er einen »Degenerierten« wie den Verdächtigen zu schützen suche und keine Anklageschrift zustande bekomme. In einer solchen Angelegenheit Menschenrechte und Unschuldsvermutung zu bemühen, stelle eine Gefahr für die öffentliche Ordnung dar, so der spätere Staatspräsident. 2004 wurde Komenda zu 15 Jahren wegen Mordes und schwerer Vergewaltigung verurteilt, das Berufungsverfahren erhöhte die Strafe auf 25 Jahre. 18 dieser 25 Jahre saß Komenda ab. Er hatte vor Gericht auf Anraten seines Pflichtverteidigers geschwiegen. Für einen Wahlverteidiger hatte seine Familie kein Geld.

Dass die Unschuld Komendas wenigstens im nachhinein festgestellt wurde, war einem Zufall zu verdanken. Der Kripobeamte Remigiusz Korejwo hatte mitbekommen, dass die Bewohner von Miłoszyce einhellig glaubten, für die Tat sei ein Unschuldiger verurteilt worden, weil der wahre Täter politisch gedeckt werde. So beschloss er, den Fall noch einmal aufzurollen. Zumal er damals gerade in einer Vergewaltigungssache ermittelte, bei der die Vorgehensweise des Täters der in der Neujahrsnacht 1996/97 ähnelte. Es gelang Korejwo, die Rückendeckung seiner Vorgesetzten zu erhalten, obwohl die Ermittlungen teilweise auch dem eigenen Apparat galten. Neue Gutachten ließen kein gutes Haar an den Expertisen aus dem ersten Prozess. 2016 wurde das Verfahren wieder aufgenommen, 2018 sprach der Oberste Gerichtshof Komenda wegen erwiesener Unschuld frei. Er erhielt 13 Millionen Złoty (etwa drei Millionen Euro) Haftentschädigung, die höchste in der polnischen Justizgeschichte.

Als wirklicher Täter wurde inzwischen ein Mann aus Miłoszyce verurteilt, der eine Geschichte als Mehrfachvergewaltiger hat, sich aber bei der ersten Vernehmung mit der Angabe hatte herausreden können, er habe zur Tatzeit zu Hause getrunken, obwohl er Details zu Protokoll gegeben hatte, die nur ein Tatbeteiligter kennen konnte. Die erste Belastungszeugin war wegen Betrugsdelikten vorbestraft und musste zugeben, dass ihre Beschuldigung frei erfunden war, weil sie ihrer Nachbarin eins hatte auswischen wollen. Tomasz Komenda starb nun an einem Krebs, der im Gefängnis nicht rechtzeitig erkannt worden war.

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